WM in Katar: Versetzt Nadelstiche
Josef Hochstrasser, schauen Sie sich die Spiele in Katar an?
Ja, einzelne. Mittlerweile finde ich den Frauenfussball spannender. Frauen spielen ehrlicher, sie wälzen sich weniger auf dem Boden, reklamieren seltener und es kommt zu keiner Rudelbildung. Ihre Gehälter bewegen sich zudem im Rahmen.
Viele erklären, man sollte die WM in Katar aus Gründen der Menschenrechte boykottieren. Verstehen Sie das?
Nein. Man sollte die Spiele nicht boykottieren. Psychologisch ist es falsch, denn solange man miteinander redet, kommt man sich näher, lernt sich besser kennen und verstehen. Wenn man nicht miteinander redet, gibt es keine Entwicklung und keine neuen Erkenntnisse. Zuletzt macht man sich vom Gegner ein Bild, das nicht stimmt. Ich plädiere dafür, an den Spielen teilzunehmen. Aber ich wünschte mir, dass kreative Momente entstünden, die wie ein Stachel im Fleisch von Katar wirken.
Wie meinen Sie das?
Zum Beispiel könnte die Schweizer Mannschaft mit einer Assistenztrainerin auftreten, die lesbisch ist. Dies signalisiert, Frauen und Lesben gehören gleichberechtigt zu unserer Gesellschaft. Es gäbe noch viele andere Nadelstiche, die man setzen könnte.
Was sagt der Pfarrer und Theologe Hochstrasser zu einem Boykott?
Das Gleiche. Jesus suchte die Auseinandersetzung mit seinen Gegnern. Er zog nach Jerusalem, dorthin, wo andere gesellschaftliche und politische Verhältnisse herrschten. Er ging in die Höhle des Löwen und stellte sich seinen Gegnern.
Sportverbände wir die Fifa oder das Olympische Komitee stehen vor dem Problem, dass sie die Wettkämpfe oft in Diktaturen austragen und die Machthaber die Spiele für ihr Image missbrauchen. Das hatte Hitler 1936 in Berlin getan, ebenso die argentinische Junta 1978 oder Putin 2014 in Sotschi.
Trotzdem, es gibt keinen Grund, nicht an den Spielen teilzunehmen. Natürlich ist es vielleicht unglücklich, dass die Delegierten Katar statt den USA gewählt haben – vermutlich durch Korruption. Trotzdem sage ich: Hingehen, sich ein Bild machen, reden und dann Nadelstiche versetzen.
In Katar wurden beim Bau der Stadien Arbeiter aus Asien ausgebeutet, etliche kamen ums Leben.
Das ist ganz schlecht. Aber es ist eine Momentaufnahme von den Verhältnissen in Katar und im arabischen Raum. Viele Katarer, Araber oder Asiaten nehmen keinen Anstoss an der schwierigen Situation der Arbeitsmigranten und -migrantinnen. Im Gespräch und mit Nadelstichen sollte man sie auf das Elend der Arbeiter aufmerksam machen und sie anhalten, die humanen Reformen einzuleiten und einen Schritt vorwärts zu tun. Das geschieht im Moment. Wenn die WM in der Schweiz stattfinden würde, könnten andere Länder auf uns zeigen und erklären, auch in der Schweiz herrsche Ungerechtigkeit, da die Frauen weniger als die Männer verdienen. Man müsse die Schweiz boykottieren. Das ist moralisierend und bringt wenig.
Die Fifa hat den Anspruch, dass sie durch den Fussball die Welt gerechter und weniger rassistisch macht. Stimmt das?
Das glaube ich nicht, dieser Anspruch ist zu hoch. Kleine Schritte wie jetzt im politischen System von Katar sind möglich. Diese Möglichkeit sollte man sich unbedingt offenhalten.
Kann Fussball die Welt verändern?
Der Fussball kann zumindest die Menschen zusammenbringen, da hat Fussball schon fast etwas Religiöses. Um Fussball spielen zu können, braucht es zwei Mannschaften, man ist auf den Gegner angewiesen. So entsteht eine Gemeinschaft. Natürlich gibt es auch das andere, wie die gewaltbereiten Fans, die Fundamentalisten, würde man bei den Gläubigen sagen.
Warum sind die Fifa und der Fussball für viele zum Hasssymbol geworden?
Einerseits da viel Geld im Spiel ist, das zu Korruption, Neid und Projektionen führt. Und andererseits da die Fifa ihre Entscheide schlecht kommuniziert und abgehoben, fast päpstlich, auftritt. Das hat mit der Freude am Fussball, die Millionen von Amateuren auf dem Platz erleben, wenig zu tun.
Josef Hochstrasser, zum Schluss noch drei Fragen: War es ein Fehler, dass man die WM in Katar ausrichtet?
Keineswegs, selbst wenn Katar keine klassische Fussballnation ist. Es kann trotzdem viel Gutes daraus entstehen.
Ist es respektlos, die WM vom Sommer in den Winter zu verlegen, ausgerechnet in die Zeit, in der Christen Advent und die Juden Chanukka feiern?
Das ist natürlich unsere europäisch-christliche Perspektive. Ich halte am Morgen am 18. Dezember in Steinhausen einen Gottesdienst, genau dann, wenn das WM-Finale stattfindet. Als Christ und Fussballfan kann ich diese beiden Veranstaltungen nicht unter einen Hut bringen. Ich muss dies auch nicht.
Wie wird die Schweizer Nationalmannschaft an der WM in Katar abschneiden?
Ich traue der Schweiz viel zu, die Nationalmannschaft könnte das Halbfinal erreichen. Das Team ist gut.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online
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