«Wir sind auf dem besten Weg zurück in die 50er-Jahre»
Sonja Wieland lebte 1997 und 1998 sowie von 2000 bis 2013 in den USA. Sie arbeitete in Kalifornien in einem Hospiz als Sterbebegleiterin. Heute ist sie Pfarrerin in den Kirchgemeinden Wintersingen-Nusshof und Arisdorf-Hersberg-Giebenach im Kanton Baselland. «Ich bin schockiert und enttäuscht von dieser Wahl, es macht mir Angst. Trump ist ein psychopathischer Narzisst und reiht sich ein in die lange Schlange von Leuten, die es durch Rücksichtslosigkeit nach ‹oben› schaffen», sagt sie. Für sie ist der 9. November ein schwarzer Tag und der Wahlausgang Resultat einer Erodierung des Mittelstandes, die seit 20 Jahren im Gang sei. «Das Bildungsniveau ging extrem nach unten, und das Volk ist müde und erschöpft und sehnt sich nach einem starken Mann.»
Narzissmus versus Empathie
Für Wieland hat die Wahl auch eine spirituell-psychologische Dimension: «Der Narzissmus hat in den letzten Jahren enorm zugenommen, angefeuert unter anderem durch die Ankunft der Social Media, die ein Tummelplatz für Selbstdarsteller geworden sind.» Während man normalerweise den Narzissmus spätestens mit 25 Jahren «ausgeschwitzt» haben sollte, bleibe er heute ein lebenslanger Begleiter. Und damit sei die Gesellschaft anfällig geworden für Leute wie Trump.
Ihm gehe es nur noch um die Mehrung der Macht. «Werte wie Wahrheit, Schutz der Schwachen oder Empathie spielen keine Rolle.» Dass so viele Frauen Trump gewählt haben, kann sie sich nur mit deren Bildungsferne und der Sehnsucht nach einem starken Mann erklären.
Die Wahl zwischen zwei Kandidaten sei meistens eine Wahl zwischen Programm «blau» und «rot» gewesen. Bei Clinton und Trump sei es aber zur Wahl zwischen «blau» und «böse» geworden. Nun habe der Böse gewonnen, und sie hofft, dass der Kongress und die Berater Trump korrigieren können. Sonst seien die Fortschritte beim Umweltschutz und beim Schutz für Minderheiten ernsthaft in Gefahr. Was er aussenpolitisch anrichten könnte, darüber möchte sie im Moment noch gar nicht nachdenken.
Scotty Williams: nicht überrascht
Eine etwas andere Sicht hat Pfarrer Scotty Williams. Er ist schwarzer US-Bürger, seit knapp sieben Jahren in der Schweiz, und arbeitet bei der «All Souls Protestant Church», einem Projekt der reformierten St. Galler Kirche. Er ist von der Wahl nicht überrascht, denn Trump habe die Arbeiterklasse und ärmere Leute angesprochen, welche die Mainstream-Republikaner und -Demokraten nicht mehr erreichen konnten. «Beispielsweise viele verarmte Weisse fühlten sich nicht von der Regierung unterstützt. Diese kümmerte sich in ihren Augen mehr um andere Gruppen wie Immigranten. Deshalb wählten sie Trump, der nicht vom Polit-Establishment kommt.»
Williams stammt selber aus einer ländlichen Gegend in Louisiana, und er kann auch die Zweifel der Farmer gegenüber der Regierung verstehen. Trumps Wähler hätten seinen Narzissmus als notwendiges Übel für den Job gesehen. «Sie interpretieren den Narzissmus als Mut, ohne die Probleme zu sehen, die damit verbunden sind», sagt Williams, der weder Trump noch Clinton gewählt hat.
Angst hat Williams keine. Als Schwarzer habe er eine andere Perspektive. In den 50er- und 60er-Jahren sei die Situation für die Schwarzen viel schlechter gewesen. Und die Angst, die heute herrsche, komme nicht von Trump, sondern von einer Politik, die schon viel früher begonnen habe. Die Polizei-Brutalität gegen Schwarze zum Beispiel habe ihre Wurzeln in der Ära von Richard Nixon.
Catherine McMillan: eine Katastrophe
Als «Katastrophe» bezeichnet dagegen Catherine McMillan die Wahl. Sie ist in den USA aufgewachsen und hat später in Virginia zwei Jahre Theologie studiert. Heute ist sie Pfarrerin in Dübendorf und Sprecherin beim «Wort zum Sonntag». Für sie ist die Wahl unfassbar. Sie erklärt sie sich damit, dass viele Amerikaner Hillary Clinton hassten und generell Frauen nicht in der Politik sehen möchten. Das habe sich mit der Ablehnung gegen die Politik Obamas sowie einem Misstrauen gegen die Eliten summiert. Trump sei diesen Wählern als kleineres Übel erschienen.
Besonders beschämend findet McMillan, dass man jemanden gewählt hat, der sich so frauenfeindlich benehmen könne: «Wir sind auf dem besten Weg zurück in die 50er-Jahre, wo das einzige Ziel der Frauen war, einen mächtigen Mann zu heiraten.» Und wenn ein Mann wie er, der sich nicht beherrschen könne, die Kontrolle über Atomwaffen habe, könne man nur noch beten.
Matthias Böhni / ref.ch / 9. November 2016
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
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