«Wir müssen vermehrt nach Werten fragen»
Ende September gab Novartis bekannt, in den nächsten vier Jahren in der Schweiz rund 2150 Stellen zu streichen. Betroffen sind vor allem die Standorte in den beiden Basel und im Aargau. Novartis teilte mit, das Unternehmen müsse seine Effizienz und Konkurrenzfähigkeit steigern. Ein Teil der Produktionsstätten in der Schweiz werde aus Sicht des Unternehmens überflüssig. Arbeitsplätze aus dem Dienstleistungsbereich sollen ins Ausland verlegt werden, um Kosten zu sparen.
Heftige Reaktionen
Die Gewerkschaften reagierten heftig und zeigten sich schockiert darüber, dass der Konzern den Stellenabbau «ohne Not» vornehme. Novartis erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Nettogewinn von 7,7 Milliarden Dollar, 12 Prozent mehr als im Vorjahr.
Die Regierungen der drei Kantone zeigten sich ebenfalls enttäuscht über den Novartis-Entscheid. Der Aargauer Regierungsrat erwartet, «dass Novartis die Verlagerung von Produktionskapazitäten ins Ausland überprüft und den angekündigten Stellenabbau reduziert». Er sei vom Ausmass des Stellenabbaus überrascht, schrieb der Basler Regierungsrat in seiner Stellungnahme. Die Betroffenen brauchten möglichst schnell «eine Perspektive und eine tragbare Lösung für ihre Situation». Mit Sorge beobachte man, «dass der gegenwärtige Stellenabbau einem internationalen Trend entspricht». Erst im Juni hatte der US-Konzern General Electric angekündigt, in der Schweiz 1200 Stellen abzubauen.
Überrascht vom Ausmass des Abbaus
Der Basler Industriepfarrer Martin Dürr pflegt seit Jahren den Kontakt zum Personal und zum Management von Novartis. Über die angekündigten Entlassungen seien die wenigsten Mitarbeitenden überrascht, über das Ausmass hingegen schon, sagt er. Viele seien verunsichert, weil sie nicht wissen, ob ihre Stelle gefährdet ist.
Nun beginne das zähe Ringen um möglichst faire Konditionen für die Betroffenen. Grosse Firmen wie Novartis könnten einen guten Sozialplan anbieten, meint der Pfarrer. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich wenig um Weiterbildung gekümmert hätten, und für über 50-Jährige werde es aber besonders schwierig, eine neue Stelle zu finden.
Auch Dürr beobachtet einen Trend und rechnet damit, dass in den nächsten Jahren weitere Unternehmen Mitarbeiter entlassen. «Software und Robotik, Digitalisierung und Industrie 4.0 werden seit Jahren immer dringender angekündigt. Inzwischen geschieht es. Neu betrifft es immer mehr Stellen, die lange als gesichert galten.»
Investoren hoffen auf mehr Profit
Die Schuld an dieser Entwicklung sieht Dürr in erster Linie bei den Investoren: «Sie orientieren sich am weltweiten Markt und wollen mehr Profit herausholen.» Ein weiteres Problem seien Grosskonzerne wie Google, Apple, Amazon oder Facebook: «Sie investieren in lernende Maschinen und wollen mit neuer Medizin die lukrativen Pharmamärkte erobern. Da kommen selbst gut positionierte Schweizer Pharmafirmen unter Druck.»
Die Auswirkungen auf den einzelnen Arbeitnehmer seien enorm, sagt der Industriepfarrer. Hier komme die Kirche ins Spiel. «Globale Verwerfungen können wir nicht aufhalten. Wir müssen aber immer wieder die Frage nach Werten, nach Menschenwürde und dem Zustand der Gesellschaft aufwerfen. Wenn die Kirche das im Dialog mit Entscheidungsträgern tut, wird sie gehört.» Die Kirche sei derzeit die einzige Institution, die von allen Seiten, von Managern ebenso wie von Ausgesteuerten, als Gesprächspartnerin und konkrete Unterstützerin ernst genommen werde.
Die Kirche hat einen langen Atem
Im Gegensatz zur Wirtschaft, die mit Quartalszahlen funktioniere, und zu den Politikern, die im Vierjahresrhythmus auf ihre Wiederwahl Rücksicht nehmen müssten, habe die Kirche einen längeren Atem. «Wir können Menschen Gemeinschaft, konkrete Hilfe und ein sinnerfülltes Leben anbieten, auch wenn die Arbeitsstelle wegfällt», ist Martin Dürr überzeugt.
Karin Müller, kirchenbote-online, 8. Oktober 2018
«Wir müssen vermehrt nach Werten fragen»