«Wer nachhaltig reist, lernt das Land kennen»
Sommerzeit ist Ferienzeit. Während in der Vergangenheit nur Dichter wie Goethe, Wissenschaftler wie Humboldt oder betuchte Adelige die Welt bereisten, sind heute Millionen unterwegs. «Der Tourismus hat sich demokratisiert», sagt Christine Plüss von fairunterwegs.org. «Reisen ist für viele erschwinglich geworden. Heute kostet ein Flug nach London nicht mehr als die Zugfahrt in den Tessin.» Inzwischen zeichnen sich die Schattenseiten dieser Entwicklung klar ab. «Ein kleiner Teil der Menschheit, die Touristen, richten einen grossen Schaden an», so Plüss.
Nachhaltig reisen
Muss man heute als Reisender ein schlechtes Gewissen haben? Plüss mag den Ausdruck «schlechtes Gewissen» nicht. Sie redet lieber davon, dass man die neue Chance packt, seine Ferien bewusst zu planen, und sich überlegt, wie man klimagerecht und fair reisen kann. Dies ist möglich, ist die Leiterin des Arbeitskreises Tourismus und Entwicklung überzeugt. «Nachhaltig zu reisen ist nicht unbedingt teurer und oftmals spannender.» Warum nicht einmal für die Überfahrt zu einer Mittelmeerinsel die Fähre nehmen statt den Flieger? Damit werde schon die Anreise zum eindrücklichen Erlebnis, sagt Plüss.
Anfragen nehmen zu
Der unabhängige Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung ist die einzige Stelle in der Schweiz, die den Tourismus aus entwicklungspolitischer Sicht beleuchtet. 1977 wurde sie von kleineren Reiseveranstaltern, der «Erklärung von Bern», heute «Public Eye», und Hilfswerken gegründet. Heute unterstützen Kirchgemeinden, die Tourismusbranche und der Bund die Stelle. Seit Jahren arbeitet der Arbeitskreis auf einen nachhaltigen Tourismus hin. Im Fokus stehen die schlechten Arbeitsbedingungen der Angestellten und die Auswirkungen des Tourismus auf die Lebensräume der Einheimischen. Das Zielpublikum sind Reisende und die Reisebranche.
Im Zuge des Klimawandels und des Massentourismus haben die Anfragen stark zugenommen. Viele Medien klopfen bei der Tourismusexpertin an. Trotz steigender Nachfrage nach Information kämpft die Arbeitsstelle mit den Finanzen. Plüss hofft auf vermehrte Unterstützung aus den Kirchgemeinden.
Lieber Taxi als Autovermietung
Wie soll man seine Ferien planen? «Zuerst stellt sich immer die Frage nach der Motivation», sagt Christine Plüss. «Wer ausruhen, entspannen und Sport treiben möchte, muss dazu nicht um den halben Erdball fliegen. Der findet attraktive Angebote auch in der näheren Umgebung.» Denn der lange Flug ist klimaschädigend und das Warten auf den Flughäfen anstrengend. Plüss rät deshalb, nur alle vier bis fünf Jahre in ferne Kontinente zu fliegen, aber dann für eine längere Reise. Dabei sollte man auf Fairness achten: Lieber in einheimischen Hotels absteigen als in den Palästen der Hotelketten, lieber regionale Produkte auf den Teller bestellen, so dass die lokalen Bauern etwas verdienen, und statt die internationale Autovermietung aufzusuchen, besser ins lokale Taxi steigen. «Wer so reist, lässt sich auf die Leute ein und lernt das Land besser kennen», sagt Christine Plüss.
Die Schülerstreiks gegen den Klimawandel prangern den CO2-Ausstoss beim Fliegen und der weltweiten Mobilität an. Politiker und Wirtschaft sind zum Handeln aufgerufen, auch im Tourismus. Ist dies nur ein Sturm im Wasserglas? «Nein», ist Christine Plüss überzeugt. «Es braucht ein Umdenken.» Jährlich werden 1,4 Milliarden Reisen gemacht, doch nur drei Prozent der Weltbevölkerung bestiegen 2017 ein Flugzeug, meist eine privilegierte Schicht aus dem Westen. Und was geschieht, wenn der Rest der Menschheit fliegen will, fragt Plüss.
Der «Over-Tourismus» führe inzwischen zu problematischen Formen: Der Flugverkehr hat in den letzten Jahren enorm zugenommen, ebenso die Kreuzfahrten auf den Flüssen und Meeren. Das Problem der Abfallbeseitigung sei nicht gelöst und die Arbeitsbedingungen der Angestellten im Tourismus immer noch schlecht, so Plüss. «Wenn vor Dubrovnik drei Kreuzfahrtschiffe ankern, dann fallen bald einmal 10'000 Besucher über die mittelalterliche Stadt her.» Zurück bleiben konsternierte Bewohner und Abfallberge.
Auch Kurztrips, für die man übers Wochenende in den Flieger steigt, machen für Christine Plüss wenig Sinn. Sie führen in überfüllte Städte, schädigen die Umwelt und nerven die Einheimischen. Die Erholung bleibe dabei oft auf der Strecke.
Touristen werden zur Kasse gebeten
Inzwischen wehren sich die Touristendestinationen: In Barcelona protestieren die Bewohner, dass sie sich wegen den hohen Mieten keine Wohnungen mehr leisten können. Venedig überlegt, Eintrittsgelder für Touristen zu erheben, um die Massen einzudämmen. Ebenso verlangt Amsterdam Gebühren von den Kreuzfahrtgästen. Selbst italienische Städte planen, die Besucher für das Bummeln in romantischen Gassen zur Kasse zu bitten.
Verschärft wird die Situation an vielen Orten durch die Selfies in atemberaubenden Landschaften, die dann auf Instagram gestellt werden. Tausende lassen sich davon inspirieren und reisen dorthin. So geschehen letztes Jahr im Berggasthaus Aescher in Appenzell Innerrhoden. Der Ansturm war so gross, dass die damaligen Pächter kapitulierten und kündigten. Für Christine Plüss sind dies Anzeichen, dass man die Forderungen nach einem nachhaltigen Tourismus ernst nehmen muss. Denn dies sei erst der Anfang.
Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 14. Juni 2019
«Wer nachhaltig reist, lernt das Land kennen»