Wenn die Natur die Seele spazieren führt
Und plötzlich blieb da Zeit. Und weniger Ablenkungsmöglichkeiten. Und vielleicht mehr Geld, weil die Ferien im Ausland nicht möglich waren. Geld für die Miete eines Schrebergartens und Zeit für eine Runde im Wald.
Melanie Ludwig, Pfarrerin und Seelsorgerin der Reformierten Kirchgemeinde Olten, versucht konstruktiv mit der Situation umzugehen. Einzelbesuche im letzten Jahr waren aufgrund der Pandemie nur eingeschränkt möglich. Gleichzeitig nahm Ludwig ein erhöhtes Bedürfnis nach Austausch wahr. Deshalb entschloss sie sich für ein neues Angebot. «Ich biete seit Februar 2021 Seelsorge auf Spaziergängen an – auch für Menschen, die nicht zu meiner Gemeinde gehören.» Schritt für Schritt im leuchtenden Grün, den Boden unter den Füssen spüren – Ludwig ist überzeugt, es spricht sich leichter, wenn man in Bewegung und in der Natur ist.
Raus in die Natur
Dass Wandern und Spazieren auf das Gehirn positiv wirkt, bestätigen auch die Forschungen der Umweltpsychologen: Blauer Himmel, die Lichtfrequenzen und das satte Grün auf einem Waldspaziergang bauen Stresshormone ab. Viele nehmen diese Impulse nicht einmal bewusst wahr. Aber nach dem Spaziergang empfinden viele Menschen, dass sie anders in den Wald gehen, als sie rauskommen. Mit der äusseren Bewegung komme auch das Innere in Bewegung. Bügeln, den Staubwedel hervornehmen oder kegeln gehen: Man habe tausend Möglichkeiten, Gedanken wegzuschieben, sich abzulenken. Beim Spazieren passiere einem das weniger, stellt Ludwig fest. «Je achtsamer der Blick auf die Natur, desto weiter der innere Weg. Wenn wir beispielsweise einer Eidechse an der Sonne begegnen, hält die Schöpfung vielleicht eine Botschaft von Gott bereit. Sie könnte dann lauten: ‹Sei einfach mal da, es geht nicht permanent um Leistung!›»
Pilgern für Blinde
Wenn es um die Achtsamkeit geht, greift Ludwig gerne auf ihre Erfahrung als Tourismus- und Pilgerpfarrerin auf der Mecklenburgischen Seenplatte zurück. Als eine blinde Frau sie damals anfragte, ob sie mit ihr pilgere, wurde sie unsicher. «Ich fragte mich, ob ich sie zuverlässig führen kann.»
Doch schliesslich war es die Pfarrerin, der auf dem Camino die Augen aufgingen. «Die Frau lehrte mich, die Schöpfung mit anderen Augen wahrzunehmen.» – «Riechst du das, hörst du die Vögel? Hier duftet es nach Pilz!», habe ihr die Frau jeweils erklärt. Wurde der Weg eng, hat sich die blinde Frau an ihrem Rucksack festgehalten. An seiner Bewegung spürte sie, wie eben oder uneben der Weg war. «Sie hatte ein unglaubliches Vertrauen!», erzählt die Pfarrerin.
Frauen fällt das Reden leichter
Nehmen mehr Frauen oder mehr Männer das Angebot der Pfarrerin in Anspruch? «Frauen fällt es oftmals leichter zu reden», stellt Melanie Ludwig fest. Das könnte der Grund sein, weshalb sie von deutlich mehr Frauen aufgesucht werde. «Und Männer besprechen gewisse Themen lieber mit einem männlichen Gegenüber», räumt Ludwig ein. Dass die Menschen ihr vertrauen, sieht sie als ein nicht selbstverständliches Geschenk. «Ich bin sehr dankbar für dieses Vertrauen!»
Mitgefühl und Emotionen zeigen
Die Route der Spaziergänge ist abhängig von der Mobilität und dem Gesprächsthema. Das kann eine kleine Runde im Quartier sein oder eine längere Strecke im Wald. Über den Weg entscheide jene Person, die Begleitung suche, sagt Ludwig. «Wird das Thema emotional, vermeiden wir stark frequentierte Wege.» Mitgefühl und Emotionen zu zeigen, wenn ein Schicksal sie sehr berührt, gehört für sie selbstverständlich dazu. «Gleichzeitig bin ich unglaublich reich beschenkt und erfüllt. Wenn ein Teil des Schmerzes von den Menschen abfällt, sich neue Wege auftun oder Hoffnung wächst, dann weiss ich: Das war jetzt der Dritte im Bunde.» Sie sei schliesslich nur ein Werkzeug von Gott.
Werden mit den voraussichtlichen Lockerungen die Gespräche auf den Spaziergängen hinfällig? Die Pfarrerin verneint: «Ich werde dieses Angebot auch nach der Pandemie weiterführen. Für viele sind die Spaziergänge Balsam für die Seele.»
Michael Schäppi, kirchenbote-online
Wenn die Natur die Seele spazieren führt