Warum der Hahn auf dem Kirchturm steht
Wussten Sie, dass weltweit 23 Milliarden Hühner leben, dreimal so viele wie Menschen? Sie produzieren jährlich 1,4 Billionen Eier. Als hochleistungsfähiges Stallhuhn verschwindet es aus unserem Blickfeld. Der Künstler Andreas Greiner setzt es mit einem zehnfach vergrösserten Skelett eines Masthuhnes auf ein Podest. Die Verwendung dieses Federviehs in unserer Sprache, wie der «Wasserhahn» oder «Herumhühnern», sowie der Name «Hahn» in der Tier- und Pflanzenwelt, wie das sechsbeinige «Lilienhähnchen» oder das «Hahnenfuss»-Gewächs, wird einem in dieser Ausstellung bewusstgemacht.
Uraltes Haustier
Unser Haushuhn ist bereits vor 8000 Jahren domestiziert worden. Seine Wildform, das Bankiva-Huhn, lebt heute noch in den Wäldern Asiens. Wohl nicht die Eier- und Fleischproduktion waren die Hauptgründe der Haltung, sondern eher die schönen Schwanzfedern des Hahns sowie das Interesse an den Hahnenkämpfen. Später war das freilaufende Hofhuhn im Gemüsegarten nützlich, wo es die Schädlinge frass. Auch diente dieser Allesfresser als idealer Abfallvertilger. Da die Haltung nicht aufwendig war, galten die Hühner als Vieh der armen Leute.
Kein dummes, blindes Huhn
Das intelligente Federvieh lebt in einer viel differenzierteren Sinneswelt als der Mensch. Eine fast 300 Grad Rundumsicht sowie ein Weitsicht- und ein Nahsicht-Auge unterstützen das Fluchttier dabei, früh genug eine Gefahr zu erkennen. «Wenn man weiss, dass das linke Auge für die Fernsicht ist», gesteht der Kurator Urs Weibel, «dann kann ich das bei meinen Hühnern zu Hause auch beobachten.» Der Besucher kann dies ebenfalls bei den Hühnern im Pfalzhof des Museums entdecken. Mit Sensoren sowohl am Schnabel als auch an den Füssen ausgestattet, ist es kein «blindes Huhn», sondern ein erfolgreicher Nahrungsfinder. Das sozial geprägte Wesen kann bis zu hundert verschiedene «Kolleginnen» unterscheiden und sich mit über 20 verschiedenen Hühnerlauten untereinander verständigen.
Verehrt und verzehrt
Früher und in verschiedenen Kulturen noch heute erlebte das Huhn hohe Wertschätzung. Seine Symbolik beruht auf seinen auffälligen Eigenschaften wie Kampfesmut, Wachsamkeit und mütterlicher Fürsorge. Als lichtaktives Tier galt der Hahn als Vertreiber der Dunkelheit und der nächtlichen Dämonen, wie fast 3000-jährige Exponate aus dem Iran zeigen. In vielen Religionen und Kulturen galten Hühner als heilig. Man opferte sie und las aus ihren Knochen die Zukunft.
Im einem ostafrikanischen Schöpfungsmythos ist das Huhn für die Erschaffung der Welt verantwortlich, indem es in der Erde scharrt und so Hügel und Täler schafft. Und seit Jahrhunderten rätseln die Philosophen über die Mutter aller Fragen, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war.
Der uns bekannte Kirchturmhahn gilt als Verkünder des Lichts und der Wahrheit. «Der Wetterhahn dreht sich nach dem Wind und bekommt durch seine 'Nase' im Wind viel mit», erklärt der reformierte Pfarrer Matthias Eichrodt vom Schaffhauser Münster. «Aber er steht als Mahner gegen den Strom, so wie die Kirche.» Der Besucher hat die Möglichkeit, durch ein Rohr als Fokussierhilfe den goldenen Gockel auf dem benachbarten Münster anzupeilen.
Das Schicksal des Turbo-Huhns
Heute sind Hühner ein globales Wirtschaftsprodukt. In den Mast- und Eierbetrieben fristet das getrimmte Turbo-Huhn ein sehr kurzes Dasein von 70 Tagen bis zu einem knappen Jahr. «Der Unterschied zwischen Boden- und Freiland-Hühnern ist: Die Letzteren haben zusätzlich Auslauf in einem Wintergarten und auf etwas Weidefläche. Aber beide haben die gleich grosse Stallfläche», so Urs Weibel. «Während Bio-Hühner mehr Platz im Stall und eine grössere Weidefläche haben müssen». In der Schweiz existieren strengere Richtlinien zur Hühnerhaltung, doch 40 Prozent des Poulet-Konsums kommt aus dem Import, grösstenteils aus Brasilien.
Bedrohte Wildhühner
Heute leben in der Schweiz noch acht Wildhuhnarten, weltweit gibt es über 250. Im Kanton Schaffhausen beobachtete man das Rebhuhn bis Anfang der 1990er-Jahre in seinem vorletzten Schweizer Lebensraum, seit 2019 existiert auch sein allerletztes Biotop in Genf nicht mehr. Mit ihm sind in Schaffhausen auch die Hasel- und Auerhühner ausgestorben. Die Jagd, die Intensivierung der Landwirtschaft, ein mangelndes Nahrungsangebot sowie fehlende Rückzugsmöglichkeiten bedrohen unsere wilden Raritäten. In der Ausstellung sind viele präparierte Hühnerarten aus der Nähe zu bestaunen. Durch iPad-Stationen erfährt der Interessierte viel über ihren Lebensraum und ihre Besonderheiten.
Judith Keller, kirchenbote-online
Ausstellung bis 5. April 2021, www.allerheiligen.ch
Warum der Hahn auf dem Kirchturm steht