Schwerpunkt: Sich entschuldigen
Von Pfarrerin Dagmar Doll
Vielleicht wäre es ja mal interessant einen Handzähler in der Hand zu halten und an einem gewöhnlichen Tag jedes Mal zu drücken, wenn wir «Entschuldigung» oder «exgüsi» sagen oder hören. Sei es bei der Spritze beim Arzt, kurz vor dem Einstich, in der Migros, wenn ich die Bananen verdecke, die jemand anderes begehrt oder im Büro, wenn die Kollegin an den Kopierer möchte. Wir entschuldigen uns ständig und bekommen es ständig zu hören. Das ist schon eigenartig, denn der Arzt trägt ja keine Schuld, wenn er mir eine Spritze setzt und ich kann nun wirklich nicht viel dazu, wenn ich mit meiner Person die heissbegehrten Früchte verdecke.
Gehen wir auf den Spielplatz, dann stecken wir zudem mitten drin in unserer guten Erziehung. Kaum hat das eine Kind dem anderen das Förmchen weggenommen, soll es sich entschuldigen – nur weiss es gar nicht wofür. Schuldgefühle beginnen sich erst etwa mit vier Jahren zu
formieren, vorher bleibt die Entschuldigung eine reine Floskel und ist kalkuliert, denn nur dann ist Mami zufrieden und ich darf weiterspielen. Sich zu entschuldigen gehört zu unserer Kultur wie «bitte» und «danke» sagen. Es bräuchte aber wahrscheinlich keinen Handzähler, wenn wir das Wort im echten Sinne benutzen würden, nämlich dann, wenn wir Schuld auf uns geladen haben, reuig sind und die andere Person um Verzeihung bitten. Aber was heisst schon Schuld, Reue und Verzeihen?
Staatliche statt privater Rache
Daniel Anrig ist Kantonsgerichts-präsident und befasst sich mit dem Strafrecht. Er kennt besonders beim Schlusswort des oder der Angeklagten alle Varianten von Entschuldigungen. Manche zeugen von echter Reue und bekunden ein wahrhaftes Leiden an der begangenen Tat und ein ehrliches Einfühlen in das Opfer. Manches Mal zeigt sich allerdings auch, so Anrig, ein eher schlechtes Schauspiel und dahinter steckt wohl mitunter auch ein wenig Steuerung durch die Verteidigung. Erhebliche Auswirkungen auf das Strafmass hat dieses nicht. Wenn ein Täter oder eine Täterin keinerlei Reue zeigt, kann dies aber im Kopf einer Richterin, eines Richters schon etwas bewirken. Daniel Anrig redet bei der Wiedergutmachung von staatlicher Rache, die ausgeübt wird. Das klingt hart, nicht aber, wenn man das Pendant dazu sieht, nämlich die private Rache. In unserer Gesellschaft ist der Selbstjustiz damit ein Riegel vorgeschoben.
Wie (christliche) Liebe zur Reue führt
Pfarrer Sebastian Doll war viele Jah-re Gefängnisseelsorger. Er beurteilt Schuld und Reue aus christlicher Sicht. Der christliche Glaube kommt von aussen in dieses System und wirft einen anderen Blick auf die inhaftierten Menschen. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Taten, so Sebastian Doll. Jeder Mensch ist ein von Gott unendlich geliebtes Geschöpf, denn Gott ist Feind der Sünde und nicht des Sünders. Es sei wichtig, den inhaftierten Menschen nicht nach Aktenlage zu beurteilen, sondern ihn im Licht der Vergebung Gottes zu betrachten. Ihm Liebe entgegenzubringen, mache diesen erst fähig auch Liebe weiterzugeben, mache echte Reue erst möglich.
Wenn Jesus zur Frau sagt, die ihren Mann betrogen hat: «Gehe hin und tue das hinfort nicht mehr!» (Joh 8, 1-11) ist auch nicht klar, ob sie sich daranhält. Aber sie spürt, dass ihr verziehen ist und dass die Selbstjustiz der Umstehenden ihr nicht zum Verhängnis geworden ist. Vielleicht sollten wir den Handzähler zur Seite legen, weiter unserer guten Erziehung nachgehen mit einem höflichen Umgang untereinander und Entschuldigung sagen. Und einmal in uns gehen und uns fragen, wann wir uns einmal ernsthaft entschuldigt haben, wirkliche Reue gezeigt haben, verziehen haben oder Verzeihung geschenkt bekommen haben. Auch das ist ein hohes kulturelles Gut, von dem wir profitieren dürfen.
Illustration: Patrick Angst
Schwerpunkt: Sich entschuldigen