Ruhe vor dem Sturm?
Die vorübergehende Asylunterkunft im thurgauischen Sulgen wurde seit dem letzten Herbst betrieben. Der Ansturm an Flüchtlingen hatte diese ausserordentliche Massnahme erforderlich gemacht. Geplant war der Betrieb bis Ende Januar, er wurde dann bis Ende Februar verlängert. Wo bis vor kurzem Flüchtlinge – vor allem junge Männer mit teils gutem Bildungsstand aus Afghanistan und Syrien – untergebracht waren, sind gegenwärtig wieder Soldaten im Wiederholungskurs stationiert.
Ab April wieder für Flüchtlinge
Gemäss Sulgens Gemeindepräsident Andreas Opprecht ist die unterirdische Zivilschutzanlage aber ab Mitte April wieder als Unterkunft für Flüchtlinge verfügbar. Die Unterkunft dient zur Entlastung des Empfangs- und Verfahrenszentrums (EVZ) Kreuzlingen – eines der sieben nationalen Aufnahmezentren, das aber nur 250 Personen aufnehmen kann. Roger Boxler, Chef des EVZ, geht davon aus, dass es «sehr wahrscheinlich» ist, dass die Sulger Anlage von April bis August wieder gebraucht wird. Er rechne ab April oder Mai mit ähnlich vielen Zugängen wie im letzten Herbst. Momentan sei die Belegung mit unter 400 Personen in den Kreuzlinger Unterkünften zu bewältigen. Zu Spitzenzeiten könnten es schon bald um die 750 Flüchtlinge sein.
Deutschkenntnisse dank Kirchen
Für die guten Erfahrungen in Sulgen verantwortlich waren einerseits die disziplinierten Flüchtlinge, andererseits das professionelle Betreuungspersonal. Nicht zuletzt hätten die engagierten Freiwilligen, die von den Kirchen in Sulgen mobilisiert wurden, dazu beigetragen, dass eine positive Zwischenbilanz gezogen werden kann, sagt Roger Boxler. Die katholische und die evangelische Kirchgemeinde sowie die Freie Evangelische Gemeinde haben gemeinsam Deutschkurse oder Spielnachmittage angeboten. Die oberirdische Tagesstruktur wurde mit Restauration und einem zeitlich limitiert zugänglichen Internetcafé ergänzt.
In ökumenischer Zusammenarbeit organisierte die Kirchgemeinde Sulgen eine Weihnachtsfeier. Pfarrer Frank Sachweh beschreibt diese Begegnung als eindrücklichstes Weihnachtserlebnis: «Die anfängliche Befangenheit wich einer tiefen Herzensöffnung, als sich ein junger Mann spontan dazu hinreissen liess, selbst ein Lied aus seiner Heimat vorzutragen. Immer mehr Männer stimmten in das Lied ein.»
Keine Delikte verzeichnet
Gemeindepräsident Andreas Opprecht bestätigt die guten Erfahrungen: «Es gab keine Probleme, die Asylsuchenden haben sich an die Regeln im Dorf gehalten, die Geschäftsbetreiber äusserten sich positiv, und es gab keine Delikte.» Das Sicherheitsdispositiv habe sich als ausreichend erwiesen. Die anfänglich hoch gehenden Wogen in der Bevölkerung hätten sich rasch geglättet. Man habe, so Boxler, bewusst darauf geachtet, dass eher schwierig eingestufte Personen im EVZ Kreuzlingen selber untergebracht wurden, was sich bewährt habe.
Viele motivierte Kirchenmitglieder
Marie-Anne Rutishauser, katholische Kirchenrätin, ermuntert die Kirchgemeinden und Pfarreien, sich in der Flüchtlingsfrage zu engagieren und nicht tatenlos zuzusehen: «Als Kirche können wir handeln. Nutzen wir unseren Spielraum!»
Im Thurgau wird dieser Spielraum genutzt. Viele engagieren sich bereits in vielfältiger Weise. Kreuzlinger Jugendliche der christlichen Jugendgruppe «boje» bauten gemeinsam mit Jugendlichen aus dem EVZ überdimensionierte Freiluft-Brettspiele.
Diakon Manuel Kägi aus Frauenfeld trägt Adressen zusammen für «Selam», das neue Projekt der Alltagsbetreuung von vorläufig aufgenommenen und anerkannten Flüchtlingen. In enger Zusammenarbeit mit der Sozialstiftung «Wetterbaum» und mit Behörden unterstützt «Selam» Flüchtlinge zum Beispiel bei der Vermittlung von Wohn- und Arbeitsplätzen.
Waschmaschine bedienen
Niederschwellige Hilfe bietet auch die Integrationsgruppe in Steckborn, die von der evangelischen und katholischen Kirchgemeinde, der Chrischona-Gemeinde, der SP und der Politischen Gemeinde Steckborn aufgezogen wird: Das Team zeigt den Flüchtlingen, wie sie alltägliche Anwendungen erlernen können, zum Beispiel wie eine Waschmaschine zu bedienen ist.
Hanspeter Rissi, Seelsorger am EVZ Kreuzlingen, macht sich Sorgen, dass Flüchtlinge, die in abgelegene Dörfer ohne Anbindung mit öffentlichem Verkehr zugewiesen werden, in die Isolation gedrängt werden könnten. Er träumt von einer «Kirche auf Rädern» und regt Kirchgemeinden an, Mitfahrgelegenheiten zu organisieren.
«Wir können unsere Augen vor der Flüchtlingsproblematik nicht verschliessen. Auch in der Bibel lesen wir viel von Fremdlingen», meint eine Frau aus Sulgen. Sie und weitere Mitglieder ihres Hauskreises besuchten einen Impulsabend in Weinfelden, weil sie sich aus erster Hand über die Flüchtlingssituation im Kanton Thurgau informieren und Ideen für konkrete Hilfemöglichkeiten mitnehmen wollten.
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Roman Salzmann, Brunhilde Bergmann / Kirchenbote / 14. März 2016
Ruhe vor dem Sturm?