Reiseland Friedhof
Friedhöfe waren nie nur Orte für die Verstorbenen. Schon früh wurden sie zu Ausflugstätten für Touristen. Nur nannte man diese Arte des Reisens in der späten Antike, im Mittelalter und bis heute Wallfahrten. Ursprünglich pilgerte man zu den Stätten und Gräbern der Heiligen. Später, so belegen Reiseführer, fanden schon im 12. und 13. Jahrhundert Abstecher zu den römischen Katakomben statt.
Der Pilger- und Wallfahrtstourismus war für die ärmere Bevölkerung oftmals die einzige Form, wie sie reisen konnte. Das religiöse Bedürfnis vermischte sich dabei mit dem kulturellen Interesse. Man besuchte die Friedhöfe, schaute sich die Grabstätten an und staunte über die Mausoleen, die teils die Dimensionen von Kapellen und kleinen Villen erreichen.
Für Bildungsbürger und Fans
Beliebt war der Besuch der Gräber von prominenten Persönlichkeiten. In der Romantik des 19. Jahrhunderts war der Abstecher zu Gräbern verstorbener Liebespaare wie dem von Heloise und Abälard auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise angesagt
Heute bewirbt die Tourismusbranche die Gräber der Prominenten. Bildungsbürger und Fans besuchen die Gräber von Schauspielern, Literaten, Musikern und Politikern. Und spezielle Führungen zeigen die prominenten Ruhestätten. Hotspots im Friedhofstourismus sind die Friedhöfe Père Lachaise in Paris und Highgate in London, der Jüdische Friedhof Weissensee in Berlin und vor allem der Zentralfriedhof in Wien. Seit ein paar Jahren führt die «Europäische Route der Friedhofskultur» von Athen bis Dublin und Granada bis Oslo über 64 Friedhöfe.
Beinhäuser und Folklore
Die Schweiz stellt als Nicht-EU-Land auf dieser Route der letzten Orte einen weissen Fleck da. Trotzdem kann die Schweiz in Sachen Friedhöfe allerlei bieten: Wer bei Schweiz Tourismus (www.myswitzerland.ch ) stöbert, stösst auf etliche besuchenswerte Friedhöfe. So das 1910 eingeweihte, ganz im Jugendstil errichtete Krematorium auf dem Friedhof in Charrière nahe La Chaux-de-Fonds. Und mitten im Industrie-Stadtquartier «Baden Nord» lädt der 1821 angelegte Stadtfriedhof mit seiner Allee aus kegelförmig geschnittenen Eiben und den Familiengräbern zur Erholung ein.
Auf dem grössten Friedhof der Schweiz, dem Hörnli, steht das Museum für Bestattungskultur, das der ehemalige Grabmacher-Meister Peter Galler ins Leben rief. Auf 380 Quadratmetern werden Grabobjekte gezeigt, unter anderem Leichenwagen, Grabkreuze, Perlenkränze und Haarandenken. Speziell ist die Schau der chirurgischen Implantate, die im Krematorium zurückblieben.
Schaurige Momente versprechen die Beinhäuser von Leuk, Poschiavo und Naters VS, in denen sich feinsäuberlich die Knochen und Schädel von 30'000 Verstorbenen türmen. Die Inschrift «Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr» erinnert die Eintretenden an ihre Sterblichkeit.
Wer es eher folkloristisch mag, sollte einen Abstecher ins Greyerzergebiet in den Freiburger Voralpen machen. Die handgeschnitzten Holzkreuze auf dem Friedhof der Gemeinde Jaun zeigen den jeweiligen Beruf oder das Hobby der Verstorbenen.
Von Chaplin bis Hermann Hesse
Wer Prominente in der Schweiz sucht, findet diese nicht nur unter den Lebenden, sondern auch auf den Friedhöfen. Seit 200 Jahren bildet die Schweiz einen Hort der Demokratie, Menschenrechte und der Ruhe vor aufdringlichen Paparazzi, so dass viele Künstler, Stars und Politiker hier eine neue Heimat und schliesslich ihr Grab fanden.
Für den hiesigen Tourismus hätten Friedhöfe eine minimale Bedeutung, erklärt Heinz Keller, Media-Manager bei Schweiz Tourismus. Die Frage nach den Bestattungsorten von Prominenten seien zurückgegangen, seit man die Hinweise im Web findet. Bei Schweiz Tourismus Nordamerika erkundige man sich nach wie vor nach Hollywoodschauspielern wie Richard Burton, Peter Ustinov, Charlie Chaplin oder Audrey Hepburn. Sie alle ruhen am Genfersee. Früher kamen aus Deutschland Anfragen zum Verbleib von Vico Torriani oder Kurt Felix. Enttäuscht reagierten die Fans, wenn sie erfahren, dass die Schlagerstars Peter Alexander und Udo Jürgens nicht in der Schweiz beerdigt wurden, obwohl sie hier gelebt hatten. Ebenso wie die Popstars Freddy Mercury und Dawid Bowie, die nach ihrem Tod in die Heimat zurückkehrten.
Der Evergreen der besuchten Gräber ist jenes von Hermann Hesse in Montagnola oberhalb von Lugano, erzählt Heinz Keller. Es liegt am Ende des Hesse-Spaziergangs, der am Wohnhaus und den Lieblingsplätzen des Schriftstellers vorbeiführt.
Party und Yogastunde
In den letzten fünfzig Jahren haben sich das Bestattungswesen und die Friedhöfe verändert. 85 Prozent der Verstorbenen lassen sich heute kremieren. Familiengräber sind selten geworden, immer mehr Verstorbene finden ihre letzte Ruhe im Gemeinschaftsgrab oder unter einem Baum in den siebzig Schweizer Friedwäldern. Umgekehrt gibt es auf den Friedhöfen mehr freien Platz und Grünflächen, so dass sich die Gottesacker zu grosszügigen Parkanlagen wandeln.
Gerade in den Städten, in denen die Bevölkerung unter der Verdichtung stöhnt, werden die Friedhöfe zu grünen Lungen, Rückzugsorten und zum Eventpark. Im Stadtfriedhof Baden trifft man sich zur Yogastunde. Und in Zürich beklagen sich die Anwohner darüber, dass auf dem Friedhof Sihlfeld grilliert, gejoggt und gesonnt wird. Seit dieser nachts geöffnet hat, gibt es Probleme mit Drogen, Alkohol und Sex, berichtete die Rundschau von SRF. Angehörige regen sich darüber auf, dass junge Leute Party feiern, während sie am Grab trauern. Sie fordern, die Friedhöfe in der Stadt Zürich nachts wieder zu schliessen.
Den Umgang mit dem Tod ins Leben zurückholen
Die Theologische Fakultät in Rostock verfolgt die Entwicklung auf dem Gottesacker schon lange. «Friedhöfe sind empfindliche Seismographen für den kulturellen Umgang mit dem Tod», sagt Professor Thomas Klie. «Ein gepflegter Friedhof ist Ausdruck für die Achtung des Lebens.» Klie hat mit einem Forschungsteam die Friedhofskultur in Norddeutschland untersucht.
Friedhöfe seien heute Trauerstätten, Biotope, Naherholungsgebiete sowie Orte des kulturellen Gedächtnisses. Die Gräber erzählten nicht nur Familien-, sondern auch Dorfgeschichten. So raten die Rostocker Forscher, Grabsteine nicht abzuräumen, sondern in die Friedhofsgestaltung einzubeziehen.
Und die Studie empfiehlt, die Attraktivität der Friedhöfe durch neue Nutzungs-, Vermarktungs- und Kooperationsmöglichkeiten zu erhöhen. Konkret bedeutet dies, die Flächen für die Erholung parkähnlich anzulegen und sie für Konzerte, Führungen, Andachten und Ausstellungen zu öffnen. «Wenn die Friedhöfe eine Zukunft haben wollen, dann müssen sie diese Schritte angehen», meint der Theologe Jakob Kühn, der an der Studie mitgearbeitet hat. «Neben dem finanziellen und gesellschaftlichen Aspekt geht es auch um die Frage, wie man den Umgang mit dem Tod ins Leben zurückholt.»
Und wo liegt die Grenze der Pietät? Darf man auf dem Friedhof Joggen oder Velofahren? Oder Sonnenbaden? Jakob Kühn «Die öffentliche Mitnutzung sollte die individuelle Trauer vor Ort nicht stören. Diese muss möglich bleiben.
Tilmann Zuber, kirchenbote-online.ch
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