Rehabilitation eines Vergessenen
«Als geistiger Typus gehört Erasmus zu der ziemlich seltenen Gruppe derjenigen, die zugleich unbedingte Idealisten und durchaus Gemässigte sind», schrieb der Kulturhistoriker Johan Huizinga über Erasmus von Rotterdam. Der niederländische Humanist und Theologe, der von Luther aufgrund seiner eigensinningen Interpretation des Johannes-Evangeliums als «diabolus incarnatus», als fleischgewordener Teufel, bezeichnet wurde, war kein Mann der Extreme. Die Christenheit zu spalten wäre nie in seinem Sinn gewesen. Trotzdem war der uneheliche Sohn eines Priesters eine wichtige Figur für die Reformation.
Heimliche Autorität der Reformation
Für Ueli Greminger, Pfarrer und Initiator des Erasmus-Jahrs der Zürcher Kirchgemeinde St. Peter, wäre die Reformation ohne Erasmus gar undenkbar gewesen: «Erasmus war ein Gedankenspender, die heimliche Autorität der Reformation.» Dass Erasmus Zürich nie besucht hat, falle dabei nicht ins Gewicht. «Sein Einfluss auf die Reformatoren war immens, und Zwingli hat ihn bewundert», sagt Greminger. Grund genug für die Kirchgemeinde, dem grossen Humanisten nun eine Ausstellung und eine Gesprächsreihe zu widmen.
Ein Stationenweg in der St. Peter-Kirche dokumentiert auf vierzehn Schrifttafeln Aspekte von Erasmus' Leben und Denken, immer mit Bezug auf Zwingli und die Zürcher Reformation. So erfahren die Besucher, dass Zwingli 1516 Erasmus in Basel besuchte und ihm danach einen begeisterten Brief schrieb. Im gleichen Jahr veröffentlichte Erasmus seine Neuübersetzung der lateinischen Bibel und setzte ihr den griechischen Urtext gegenüber – die Grundlage von Luthers und damit indirekt auch von Zwinglis Bibelübersetzungen.
Als Zwingli in den Strudel der Politik geriet, wandte sich Erasmus allerdings von ihm ab. Zu radikal war ihm die Zürcher Reformation geworden. «Erasmus war vor allem ein Gelehrter, er war nicht der Tatmensch, der Dinge umsetzte», sagt Greminger.
Revolutionäre Übersetzung
Dass Erasmus auf den Dialog und nicht auf das Schwert setzte, ist mit ein Grund, dass man ihm nun im St. Peter ein Denkmal setzt. «Indem Erasmus die Anfangsworte des Johannes-Evangeliums mit ‹In principio erat sermo› – ‹Am Anfang war das Gespräch› – übersetzte, tat er etwas Revolutionäres. Genau diesen Aspekt des Dialogischen wollten wir mit unserem Projekt aufgreifen», sagt Greminger.
Der Kunst des Gesprächs ist deshalb eine achtteilige Serie von «Turmgesprächen» hoch oben im Turm des St. Peters gewidmet. Ein kleiner Kreis von Eingeladenen diskutiert eine Stunde lang über die Frage «Religion – Himmel oder Hölle?». Den Input dazu liefert jeweils ein prominenter Gast. Neben der Pfarrerin und Kantonsrätin Esther Straub nahmen schon Theater Neumarkt-Direktor Peter Kastenmüller und der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl teil.
Kritisch, aber versöhnlich
«Wir wollten keine rein historische Veranstaltung machen, sondern auch Fragen zur Zukunft der Kirche stellen», sagt Greminger dazu. Aufgrund der engen Platzverhältnisse im Turmzimmer sind die Gespräche nicht öffentlich. Interessierte können sie aber an der Hörstation des Stationenwegs nachverfolgen.
Etwas vom kritischen, aber versöhnlichen Geist des Erasmus einzufangen, ist das Ziel der Veranstalter. Historisch ging die Reformation bekanntlich einen anderen, gewaltsameren Weg. Nachdem sich Erasmus von der Zürcher Reformation abgewandt hatte, geriet sein Erbe in der Zwingli-Stadt in Vergessenheit. Insofern ist das Erasmus-Jahr im St. Peter auch eine kleine Rehabilitation.
Weitere Informationen zum Stationenweg im St. Peter
Heimito Nollé / ref.ch / 10. April 2017
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Rehabilitation eines Vergessenen