Pfarrer rief und der Bundespräsident kam
«Sie sind drin, herzlichen Glückwunsch», begrüsste Franz Lorenz, Leiter der Offenen Kirche Elisabethen in Basel, die rund 400 Anwesenden, darunter viel Politprominenz wie Ständerätin Eva Herzog oder Regierungsrat Conradin Cramer. Es wären noch einige mehr gewesen, die gerne «drin» gewesen wären, aber die Veranstaltung vom 8. Februar mit dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck war seit Wochen ausverkauft.
Ein Brief und ein Telefonat
Gauck eingeladen hatte der emeritierte Basler Pfarrer und Philosophieprofessor Hans-Peter Schreiber aus Riehen. Inspiriert durch Joachim Gaucks Buch «Erschütterungen» schrieb der 88-Jährige dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten kurzerhand einen Brief und lud ihn nach Basel ein. Wenige Wochen später klingelte in Riehen das Telefon. Am Apparat: Joachim Gauck mit seiner Zusage. Hans-Peter Schreiber, der «seinen Ohren kaum traute» und zunächst an einen Scherz glaubte, setzte sofort alle Hebel in Bewegung und organisierte mit einer kleinen Gruppe von Privatpersonen den Vortrag Gaucks in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel.
Die Kirche als Veranstaltungsort ist für Gauck und Schreiber ein Heimspiel. Schreiber war nach seinem Theologiestudium Gemeindepfarrer in Oberwil, Therwil und Ettingen und danach 20 Jahre lang Studentenpfarrer an der Universität Basel. Der 84-jährige Joachim Gauck hatte vor seiner politischen Karriere ebenfalls Theologie studiert und war bis zum Mauerfall 1989 als Pfarrer in der ehemaligen DDR tätig. In dieser Funktion war er Mitinitiator des Widerstandes gegen die Diktatur des SED-Regimes. Später verwaltete er als Leiter der Gauck-Behörde die Stasi-Akten. Gauck steht für Demokratie und Freiheit im vereinten Deutschland. Diese sieht der ehemalige Bundespräsident in seinem jüngsten Buch bedroht. Die Veranstaltung in der Elisabethenkirche trug den Titel «Politische Erschütterungen, über die Gefährdungen liberaler Demokratien».
Krieg in der Ukraine bedroht die Demokratie
Eingeladen hatte Hans-Peter Schreiber auch die ehemalige Aargauer National- und Ständerätin Christine Egerszegi, die ihre Erfahrungen als Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einbrachte. Egerszegi war Präsidentin der Schweizer OSZE-Delegation, als Russland 2014 die Krim annektierte.
Der Krieg in der Ukraine sollte an diesem Abend noch mehrfach zur Sprache kommen. Sein Buch «Erschütterungen», so Gauck, beziehe sich auf die äussere Bedrohung der Freiheit, der Demokratie, etwa durch Putin, ebenso wie auf die innere Bedrohung durch verschiedene autoritäre Verführungen, wie sie derzeit überall in europäischen Staaten zu beobachten seien.
Freiheit der Verantwortung
«Sagen Sie uns etwas zum Stichwort Freiheit, Herr Gauck», bat Hans-Peter Schreiber. Viele Menschen empfänden Einschränkungen als Eingriff in die persönliche Freiheit. Auch mit Blick auf die in der Kirche anwesenden Schülerinnen und Schüler begann Joachim Gauck, dass man in jungen Jahren dazu neige zu sagen: «Ich bin ich und ich will Freiheit!» Das sei verständlich. Wenn man jedoch älter werde, müsse man eine andere Form der Freiheit entdecken: Nicht die Freiheit von etwas, sondern die Freiheit zu etwas, für etwas. Als Beispiel nennt Gauck das Verliebtsein. Mit der Zeit wird der andere wichtiger als man selbst. Diese Form der Freiheit, Verantwortung zu übernehmen und darin keinen Zwang zu sehen, das sei die Freiheit der Erwachsenen. «Das Geheimnis ist, dass es erst anstrengend ist und dann glücklich macht. Nachhaltiges Glück.»
Wandel durch Handel gescheitert
Andererseits warnte Gauck vor dem anderen Gesicht der Freiheit: dem Raubtierkapitalismus, der als nacktes Kalkül und letztlich als Egoismus Solidarität und Mitgefühl neutralisiere. «Heute steht die Demokratie vor ganz neuen Herausforderungen», meint Joachim Gauck. Die Politik nur gut und romantisierend über den anderen zu denken und Wandel durch Handel zu erreichen, sei gescheitert. Brandstifter und Machtmenschen wie Putin sähen darin eine Schwäche. Joachim Gauck forderte eine neue Entschlossenheit in der Friedensliebe, die auch Machthaber und Autokraten verstehen.
So ging es unterhaltsam und lehrreich durch den Abend. Schreiber («...als ich noch konzessionierter Schamane war...») und Egerszegi («Die Schweizer Armee fliegt wieder ausserhalb der Bürozeiten») fungierten wie in einer Talkshow als «Sidekicks», gaben Stichworte, stellten Fragen. Und auch wenn Gauck überbordendes Lob lapidar mit einem «Ich bin norddeutscher Protestant, das ist zu viel» zurückwies, lief der gebürtige Rostocker entgegen dem Klischee des schweigsamen Norddeutschen zu rhetorischer Hochform auf.
Und das durchaus theologisch. Man erfuhr etwa, dass Gauck in der Nachkriegszeit, nach Auschwitz, grosse Zweifel hatte, ob Gott den Menschen wirklich nach seinem Ebenbild geschaffen habe. Während seines Studiums sei er überzeugt gewesen, dass er niemals über diesen Text aus der Genesis predigen würde. Erst nach und nach habe er begriffen, was diese unerwartet klaren Worte bedeuten: «Gott hat den Menschen geschaffen mit der ihm eigenen Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen für sich selbst und für alles, was um ihn ist. Kein anderes Wesen hat das. Und da dachte ich. Na, da ist es doch. Das ist etwas, das weit über unsere biologische Existenz hinaus geht. Das uns verbindet mit beiden Welten.»
Pfarrer rief und der Bundespräsident kam