Notizen aus der Zeit wankender Selbstverständlichkeiten
Aufgezeichnet von April bis Mai 2020
Ich lebe in Luzern und ich habe gelernt, diese Stadt zu lieben: den See, die Berge, die fremde Sprache, in die ich so viel hineinvermute, gerade weil ich sie nicht ganz verstehe. Jetzt: seit Wochen die Frühlingssonne über der Stadt, dem See und über dem noch verschneiten Titlis. Und jetzt: Corona. Die Dinge werden zweideutig: der See, die Sonne, die Berge. Unter dem Vorzeichen des bösartigen Virus verlieren auch sie ihre Unschuld. Sonne und See beschönigen. Es ist ein tückischer Frühling mit seiner Schönheit und mit seinem Verderben. Das Virus sät das grosse Misstrauen gegen das unschuldige Lob des Lebens. Das Misstrauen kann man nicht übersehen und man hat kein Recht, sich ihm zu ergeben. Die alte Aufgabe der Zuversicht: die Gefahr nicht zu übersehen und ihr endgültiges Recht zu bestreiten. Dorothee Sölle nannte dies: Loben ohne zu lügen.
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Corona und der Zusammenbruch der Selbstverständlichkeiten. Bis vor wenigen Wochen habe ich meinen eigenen Tag voraussagen können: Ich frühstücke mit meiner Frau, ich arbeite, ich halte ein Schwätzchen mit den Nachbarn, ich gehe in die Bibliothek und leihe mir ein Buch, ich kaufe ein, ich gehe ins Kino und besuche meinen Freund. Wenig davon ist noch möglich: nicht das Kino, nicht die Bibliothek. Das Zutrauen zum Leben braucht die alltäglichen Wiederholungen und Selbstverständlichkeiten. Ich weiss: Diese unangefochtenen Selbstverständlichkeiten und Geläufigkeiten können verdummen, aber sie sind auch eine Lebensstütze. Ich muss mich nicht jeden Augenblick neu erfinden, wenn ich weiss, was kommen soll und was kommen wird. Aber vielleicht gehört zur Erwachsenheit eines Menschen, den Zusammenbruch der Gewohnheiten zu ertragen und neue Ordnungen zu entwerfen.
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Das Gefühl, für das Leben zu wenig Zeit zu haben, hat die meisten vor Corona bestimmt. Besinnungslose und hastige Eile war das Tempo, das geboten war oder das man sich selbst geboten hat. Sinn wurde durch Hasten ersetzt. Nun bringt uns Corona ein Danaer-Geschenk: viel Zeit, lange Zeit und Langeweile. (Ich rede nicht von allen: Die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern im dritten Stock eines Hochhauses wird keine Langeweile haben.) Es ist schwer, mit der vielen Zeit umzugehen, die wir uns so lange gewünscht haben. Unser alter Modus, das Leben anzugehen, war die Aktivität. Nun sind viele zur Passivität verurteilt. Corona hat uns die Arbeit genommen und alle Spielzeuge, die wir als Arbeit getarnt haben. Gnadenlos stehen wir uns selbst gegenüber und spüren plötzlich, wie wenig wir Herr im eigenen Haus sind. Wir sind andauernd Gastgeber unserer selbst, aber nur mit sich selbst ist man in schlechter Gesellschaft. Wohin kann man sich selbst entkommen: Der Einsamkeit, der Lustlosigkeit, dem Gefühl der Fadheit des Lebens? Psychologen und Philosophinnen, Pfarrerinnen und Lebensberater erinnern an alte Weisheiten, denen lange misstraut wurde. Sie sagen: Verzichte darauf, einsamer Meister deiner selbst zu sein; Meister deines Herzens und deines Willens. Herz und Wille allein sind schwach. Aber es gibt Gehilfen, die den eigenen Willen entlasten und die dem Herzen auf die Spur helfen. Starre nicht auf deine eigene kümmerliche Autonomie und baue dir Rituale, die deine Zeit gliedern. Suche dir Formen, die Grenzen in deinem eigenen Leben setzen und das Zerfliessen des Lebens verhindern. Formen gürten den müden Geist. Triff Absprachen mit dir selbst, so wirst du der Verwahrlosung entkommen und nicht in dir selbst ertrinken. Vergiss deine unterträgliche Willkür und Zufälligkeit, und du wirst frei. Es sind eigentümliche katholische Vorstellungen, die neu bedacht werden: Ordnung, Form, Ritual, Gestaltung, Struktur; Skepsis gegen Spontanität und gegen Verherrlichung der Authentizität. Es ist zu anstrengend, sich von Augenblick zu Augenblick neu zu erfinden. Ich hoffe, dass diese alten Weisheiten auch nach Corona noch ihre Stimme finden.
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Auf dem Höhepunkt des wütenden Corona ist der Bruder meiner Frau gestorben. Kontaktsperre auch mit dem Sterbenden und mit dem Toten! Er ist zum Glück nicht in der Fremde einer Klinik gestorben. Seine Frau und zwei seiner Schwestern konnten ihn zu Hause pflegen und ihn ins Sterben begleiten. Aber seine vier übrigen Geschwister, Freunde und die meisten seiner engeren Angehörigen bekamen die Nachricht von seinem Tod nur als Mitteilung. Sie sahen nicht mehr sein blasses Gesicht, sie besprengten ihn nicht mit Weihwasser. Sie hörten nicht sein letztes Wort, sahen nicht mehr seine letzte Geste. Sie konnten sich nicht verabschieden. Um Abschied zu nehmen, muss man sehen, von wem man sich verabschiedet. Man muss ihn noch einmal spüren. Aber die Trauer hatte Hausverbot. Corona zwingt uns in die Abstraktion und in die Privatheit. Wie können Abschied und Trauer gelingen, wenn sie die Sichtbarkeit und die Öffentlichkeit verlieren? Man ist auch der, als der man sich zeigt. Man ist auch die, als die man sich aufführt. Was aber geschieht, wenn den Trauernden die Öffentlichkeit und die Sichtbarkeit verwehrt sind?
Dann die Beerdigung: Auch hier sind Nähe und Öffentlichkeit vermindert. Nur wenige Menschen sind dabei. Sie tanzen des Ballett der Vermeidung und umkreisen sich in nötigem Abstand. Aber dann fand die Trauer eine würdige Form. Geschwister des Toten spielten und sangen am Grab. Seine Schwester leitete die Beerdigung. Die alten Gesten und Formeln wurden seltsam eindringlich in der Kargheit dieser Feier – das Holzkreuz, das in die Erde gestossen wurde, das Weihwasser, der Segen, die uralte Formel: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Welcher Reichtum einer Kultur, die solche Formen und Formeln hegt! Nein, dieser Beerdigung konnte Corona nichts anhaben. Nur eines fehlte: das gemeinsame Mahl. Dass es fehlte, wurde an dem deutlich, was es zu ersetzen versuchte: Auf der Bank unter einer Linde stand ein Korb mit belegten Brötchen für die Teilnehmenden. Eine Geste, schön in ihrer Hilflosigkeit. Gefehlt haben bei dieser Beerdigung die Verwandten und der grosse Freundeskreis des Toten. Zu meinem eigenen Erstaunen sage ich: sonst nichts. Vielleicht bestand die Schönheit dieser Stunde auch darin, dass man sich fallenlassen konnte in die alten Zeichen und Worte. Wir waren uns selbst abgenommen und mussten uns nicht erfinden in der Gestaltung unserer Trauer. Wir hatten Masken, die uns verhüllten und die uns zeigten. Die alten Zeichen waren noch eindringlicher, weil sie sozusagen blank erschienen, weil aus dem herkömmlichen Kontext genommen.
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Corona droht unsere Freiheit zu zerstören. Nicht dass unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, nicht dass wir einen Mundschutz tragen und einander ausweichen müssen, bedroht unsere Freiheit. Vielmehr ist es die Allgegenwärtigkeit des Virus, die uns besetzt. Das Virus hat ein Gottesprädikat, es ist allgegenwärtig. Die erste Nachricht am Morgen: Corona, es ist auch die letzte am Abend. Es beherrscht als Thema Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Es beherrscht unsere Gespräche und Planungen. Es ist diktatorisch gegenwärtig. Es diktiert uns, was wir zu bedenken haben; aber schlimmer: Es diktiert uns damit, was wir zu vergessen haben. Ich sehe, welche zentralen Themen zu Randthemen werden oder überhaupt wegfallen aus unseren Themen horizonten. Gewiss, die Arbeiterinnen aus Bangladesch, die ihre Arbeit verlieren im Verlauf der Pandemie, werden erwähnt; mehr nicht. Die Dramatik des veränderten Klimas ist nicht ganz vergessen. Aber das Virus hält uns mit seiner Allgegenwart so im Bann, dass unser Denken, unsere Wahrnehmungen und unsere Wünsche verformt werden. Corona zwingt uns dazu, hauptsächlich uns selber wahrzunehmen und zu beachten. Dem Virus gegenüber sind wir in Gefahr, unsere Souveränität zu verlieren. Es macht uns hysterisch, indem es uns und unsere Gesundheit als ausschliessliches Thema gebietet. Kann man sich dagegen wehren? Kann es eine Art Corona- Fasten geben? Das hiesse, nicht jeden Artikel lesen, der mit dem Thema zu tun hat. Nicht jede Sondersendung Corona ansehen, und Corona nicht in jedem Gespräch die Herrschaft lassen. Corona verlangt, was alle Götzen verlangen, nämlich dass man Angst vor ihnen hat. Wer Angst hat, sieht nur die Gefahr. Er sieht den Flieder nicht, der gerade blüht. Er hört die Amseln nicht ihre frechen Lieder pfeifen, und er sieht die Flüchtlingskinder nicht, die nach ihren Eltern weinen. Es ist schwer, Meister seiner Ängste zu werden.
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Ich als sehr alter Mensch spüre Freundlichkeit und Solidarität. Von allen Seiten kommen Angebote zu helfen, für mich einzukaufen und mich zu begleiten auf schwierigen Wegen. Ich war gerade drei Wochen allein in unserer Wohnung. Die Freundschaft der Hausgenossen war bewegend. Die Menschen scheinen mir freundlicher, nicht nur in der unmittelbaren und bekannten Umgebung. Wenn sich Menschen begegnen, machen sie zwar den vorgeschriebenen Bogen umeinander, aber sie tun es meistens mit einem Lächeln. Und so ist dem Bogen seine Distanz genommen. Wo und wann haben sich Menschen vorher angelächelt, wenn sie sich begegnet sind? Ich freue mich über die Freundlichkeit, aber ich habe gelegentlich auch das Gefühl einer wohlwollenden Entmündigung. Männer und Frauen über 65 sollen nicht auf die Strasse, nicht einkaufen, die Enkelkinder nicht sehen. Sie sind Risikogruppe. Aber ich bin nicht nur Mitglied einer Risikogruppe, sondern ein Mensch, der Gespräche braucht, Austausch, Vergnügen an den Gesichtern der anderen. Man stirbt nicht am Tod allein. Man kann auch sterben an der Einsamkeit und daran, dass man zu nichts mehr gebraucht wird. Vielleicht ist dies die häufigste Todesart.
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An vielen Stellen versuchen wir Corona zu überlisten. Wir versuchen unsere Arbeit so einzurichten, dass sie nicht ganz durch Corona boykottiert werden kann. Wir richten unser Home-Office ein, die Schüler und Schülerinnen lernen ihre Lektionen am häuslichen Küchentisch. Ich meine aber mehr, ich meine die List, den Trotz und den Trost der Spiele. Unerwartet ist unsere Gesellschaft auch zu einer Welt der Spiele geworden. Leute treten zu einer bestimmten Stunde auf ihre Balkone und musizieren. Andere treten am Abend vor ihre Häuser und singen das wundervolle Abendlied von Matthias Claudius «Der Mond ist aufgegangen». Noch selten habe ich so viele poetische Texte und Gebete zugeschickt bekommen wie in diesen Wochen. Konzerte finden in leeren Konzertsälen statt und werden auf Livestream ins Wohnzimmer übertragen. Gedichte, Lieder, Spiele, Gebete riechen schon die Freiheit, die erst unterwegs ist. Es ist, als wollte eine geplagte Gesellschaft gerade jetzt der Welt der puren Zwecke entkommen. Menschen spielen, d. h. sie tun etwas, was nicht notwendig und was unentbehrlich ist. Sie spielen. Wann ist je der Durst nach Freiheit ohne Spiele ausgekommen? Wann ist die Hoffnung ohne die Erinnerung an die Schönheit ausgekommen?
Notizen aus der Zeit wankender Selbstverständlichkeiten