Nachtgedacht
Die Unwiederbringlichkeit, die Vergänglichkeit des Lebens und der Zeit zeigt sich hier mit ziemlich deutlicher Wucht. Die Berge erscheinen so unveränderlich. Und doch: Sie sind in den letzten 20 Jahren mehr und mehr in Bewegung, verändern sich schneller als manche Leute in Politik und Gesellschaft. Dabei ist das Bewusstsein, dass Berge einstürzen können den Elmern, hier in Elm, immer gegenwärtig. Es genügt ein Blick an die Bergsturzwand, von der sich am Sonntag, dem 11. September 1881, nachmittags ein ganzer Bergkopf in einer Steinflut über das Untertal mit über 10 Millionen Kubikmetern Gestein löste, ins Tal ergoss, am gegenüberliegenden Berghang hochbrandete und alles verschüttete. Der Äschestein und weitere riesige Schieferbrocken im Untertal erinnern daran.
Die Schatten der Toten
Auf der Gedenktafel an der Elmer Kirche sind all die 114 Namen derjenigen, welche damals im Elmer Bergsturz zu Tode kamen, aufgeführt. Die ganze Familie der Urgrossmutter meines Mannes kam dabei um, sogar das einen Tag zuvor geborene Geschwisterchen. Sie und all die anderen Gräber der Verstorbenen rund um die Kirche erinnern uns an die Vergänglichkeit des Lebens und sagen uns heute: Was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr. Die Toten umgeben die Lebenden, wenn diese auf dem Friedhof stehen, und auch die Touristen, die zweimal im Jahr – Anfangs März und Anfangs Oktober – nach der Sonne im Martinsloch schauen. Oder anders gesagt: Auch wenn die Toten im Schatten sind, so verweisen sie uns Lebende doch auf das Licht, das da kommt:
«Gott, Du bist die Quelle des Lebens, und in Deinem Lichte sehen wir das Licht.» (Psalm 36, 10)
Vorher- nachher: Was ist die Zeit ? Menschenzeit - Gelebte Zeit.
Was ist die Zeit ? Gotteszeit - seine Ewigkeit. Was ist der Augenblick? Leben im Jetzt: Ein Wimpernschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft? Und was hat Gott damit zu tun? Mit der Zeit und uns? In dieser Unwiederbringlichkeit des «vorher» und «nachher» aber sehe ich auch das «Bisherige» und darüber hinaus: was weitergeht und sämtliches «Her(r)-schende» übersteigt in Gottes Zusage, dass er zu und in allen Zeiten da ist. Sie steht unter all den Namen auch an der Gedenktafel als Predigttext für die damalige Trauerfeier. Mit jedem Läuten der dritten Kirchenglocke in Elm kommt die Botschaft zum Klingen und wird allen in Elm zugesagt, wie sie als Inschrift auf der dritten Glocke steht.
Und dann ist diese Zusage Gottes auch mein Ordinationsdenkspruch, den ich erhalten habe, bevor ich überhaupt nach Elm kam.
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
spricht der Herr, dein Erbarmer. (Jesaja 54, 10)
Mit diesem Versprechen, dass Gott da ist – in alle Ewigkeit – können wir fähig werden, mit Gottes Hilfe im Leben, im Alltag einander beizustehen, einander zu stärken und zu ermutigen. Ja, es ist Gottes Gnade und sein Friedensbund, der in uns Berge und Hügel versetzt.
*Andrea Rhyner-Funk ist Pfarrerin für Menschen mit Behinderung im Glarnerland und wohnt in Elm.
Bild (zvg): Der Felssturz am grossen Tschingelhorn vom Oktober 2024 hat die Bergsilhouette im Chlytal deutlich verändert.
Nachtgedacht