Mystik im Alltag finden: ein Experiment mitten in der Stadt
Ich schätze sie auf Anfang 50. Sie hat den Kopf über ein Büchlein geneigt, und ihre schulterlangen braunen Haare verdecken ihr Gesicht. Ihre Hand umfasst die Kaffeetasse, sie ist ganz in die Lektüre vertieft. Ich bin verabredet mit Monika Widmer – und gespannt, wie sie mir in den nächsten zwei Stunden Mystik im Alltag zeigen wird. Entschlossen stosse ich die wuchtige Holztür zur Cafeteria der Titus Kirche auf und steure auf sie zu. Die Pfarrerin blickt auf, grüsst herzlich und unkompliziert, als wären wir uns schon begegnet.
Ob ich auch einen Kaffee wolle, fragt mich Monika Widmer. Gerne hätte ich das Angebot angenommen. Doch wir beide haben noch einen weiten Weg vor uns. Sie wird mich auf einem Spaziergang vom Bruderholzhügel durch die Wolfsschlucht hinunter in die belebte Basler Innenstadt begleiten. Das Besondere daran: Im Mittelpunkt stehen Strassenexerzititen. Bei unserem Experiment werden wir der Frage nachgehen, wie sich Mystik im Alltag manifestiert. Praktisch ausgedrückt: Wie ist Gott inmitten des tosenden Strassenlärms, der Flut von Menschen und Eindrücken in einer Grossstadt mit all ihren Angeboten, ihrer Hektik und ihren Versprechungen erlebbar?
Strassenexerzitien
Die Strassenexerzitien gehen auf den Jesuiten und Arbeiterpriester Christian Herwartz zurück. Er lebte in einer offenen Kommunität mit ausgegrenzten Menschen in Berlin-Kreuzberg. Ende der 1990er-Jahre baten ihn einzelne Bewohner, dass er sie bei ihrer persönlichen geistlichen Auszeit mitten in der Hektik einer Stadt begleiten würde.
Die «Übungen» während der Strassenexerzitien sind schlicht: hinschauen, hinhören, riechen, tasten, schmecken – sich berühren, anstecken lassen. Sich ausrichten auf das, was man gerade wahrnimmt, und alles Zielgerichtete loslassen. Die Teilnehmenden sollen möglichst unvoreingenommen Gott und die Menschen suchen. Dazu gehören auch Begegnungen mit Menschen am Rande der Gesellschaft. So soll und kann die Begegnung mit dem Nächsten als Ebenbild Gottes gefördert werden.
Strassenexerzitien: intensiv und aufschlussreich
Unser Weg führt vorbei an einladenden Gärten. Hinter einer Hecke zeichnen sich die Umrisse eines Pools ab, der gerade mit Wasser gefüllt wird. Eine eigentümliche Stille liegt über dem Quartier. Hier leben vor allem ältere, wohlhabende Leute und gut situierte Familien. «Ein guter Ort für Meditations- und Achtsamkeitsspaziergänge», erklärt Widmer. Die Strassenexerzitien seien wie ein Gegenpol zu den eher beschaulichen Exerzitien in den Kirchen, den Meditationszentren oder in der Natur. Sie könnten sehr anspruchsvoll und intensiv werden. «Ständig prasseln Eindrücke auf einen ein. Man ist damit beschäftigt, wahrzunehmen, was das Erlebte auslöst.» Ziel der Strassenexerzitien sei auch, aus der Reflexion Schlüsse zu ziehen, wie man der Not begegnen und die Not anderer wenden kann.
Das Quietschen eines bis auf den letzten Platz besetzten Trams unterbricht die Stille. Autofahrer warten ungeduldig, bis wir die Strassen überquert haben. Aus der Innenstadt kommen uns unzählige Büroangestellte entgegen. «Ich würde niemandem die Grundsensibilität für Spiritualität absprechen», beginnt Widmer. «Die Sehnsucht nach Spiritualität, die Gabe, über uns hinauszudenken, zu träumen, zu hoffen und Pläne zu schmieden – all das lässt uns über uns selbst hinauswachsen.»
Manche erlebten dies im Gebet und im Lob Gottes, andere in der Kunst, der Musik und der Literatur. All das seien Zugänge für das, was wir Spiritualität nennen. Sie habe noch keinen Menschen getroffen, der nicht letztlich eine spirituelle Ressource in sich trage, wenn auch vielleicht verschüttet.
Von der Schöpfung ergriffen
Wir biegen auf einen Spazierweg in die Wolfschlucht ab. Links und rechts erheben sich grüne Bäume wie riesige Wegweiser. Bunte Blütentupfer haben das Winterbraun abgelöst und befeuern die Natur. Wie sie Gott in der Natur erlebe, will ich wissen. «Das kann ein erhabener Moment nach einer Bergwanderung auf einem Gipfel sein oder dann, wenn ich ergriffen vor der Kraft des Meeres am Ufer stehe. Wenn ich auf einem Achtsamkeitsspaziergang mein Inneres, mein Herz wahrnehme, dann hilft mir das, die Beziehung zur Schöpfung und letztendlich zu Gott zu vertiefen. Als Theologin und Christin deute ich diese Eindrücke als Gottes Reden.»
Vögel zwitschern in den Bäumen. Es scheint, dass der grüne Tunnel hinunter in die Stadt die inneren Bilder über die Natur verstärkt. Dabei weist mich Widmer noch auf einen anderen Bezug hin: Die Herzensbeziehung, der emotionale Bezug zur Schöpfung, motiviere laut wissenschaftlichen Untersuchungen die Menschen am meisten zu einem nachhaltigen Lebensstil.
«Wo ziehst du deine Schuhe aus?»
An der Ecke zum Zwinglihaus im Gundeldinger Quartier schlagen wir einen Haken und gehen in Richtung Bahngleise. Der Einstieg in die Strassenexerzitien sei einfach, man könne sich einfach mal auf den Weg machen, beginnt Widmer.
«Wenn ich Gott auf der Strasse und in der Natur finde, warum braucht es da noch die Bibel?», wende ich ein. «Die Bibel ist für uns Christinnen und Christen Grundlage, Referenz, um unsere Erfahrungen mit Gott zu ordnen, darin waren sich Zwingli und Luther einig», bekräftigt Widmer. «Im Alten Testament offenbart sich Gott beispielsweise als ‹ich bin, der ich bin› – das bedeutet: ‹Gott ist da, er ist gegenwärtig.› «Die eigentliche Frage lautet: Sind wir Menschen auf unserem Lebensweg fähig, das wahrzunehmen, oder stehen wir uns im Weg?»
Für Monika Widmer ist eine biblische Schlüsselstelle für die Mystik der Strassenexerzitien die Begegnung Mose mit dem brennenden Dornbusch. «Im brennenden Dornbusch zeigt sich Gottes Wunder. Moses zieht voller Ehrfurcht seine Sandalen aus und sagt: ‹Das ist heiliger Boden!›» Widmer ermuntert die Teilnehmenden von Strassenexerzitien jeweils, ihre Schuhe sinnbildlich auszuziehen. «Nehmt eine ehrfürchtige Haltung an und nehmt wahr, wo ihr etwas von diesem brennenden Dornbusch entdeckt!», ermuntere sie die Gruppe. Die Frage, die sich jeweils stelle, sei auch: «Was ist mir heilig? Wo ziehe ich meine Schuhe aus?»
Solche Themen, die sich in den biblischen Geschichten manifestieren, seien äusserst vielschichtig. «Sie haben sich verdichtet, indem man sie über Generationen erzählte. So, dass sie grundlegend und wesentlich für unseren Glauben wurden.»
«Einschneidende Gotteserlebnisse sind selten»
Moses hatte mehrere einschneidende Gotteserfahrungen. Und wie sieht es da bei den Strassenexerzitien aus? «Niemand sollte auf das durchschlagende Gotteserlebnis warten», ist Widmer überzeugt, «denn diese sind äusserst selten.» Widmer begegnet Gott in den Exerzitien und der Meditation. Andere erlebten dies in der Gemeinschaft, bei einem harten Schicksalsschlag oder in der Erfahrung absoluter Liebe. «Glauben ist, wie wenn ich schwimmen lerne: Nach einiger Zeit merke ich, dass das Wasser wirklich trägt.»
Wir kommen an der Heiliggeistkirche vorbei, die sich auf das Pfingstwunder der ersten Christen und Christinnen bezieht. Der Heilige Geist sei die apersonale Seite Gottes, meint Widmer. «Er kann mich ergreifen, er kann beleben, aber gleichzeitig steht er für die Unverfügbarkeit Gottes. Der Geist weht, wo er will.» Für Monika Widmer ist der Heilige Geist eine wichtige Stütze bei Entscheidungen. «Ich wäge die verschiedenen Optionen ab, bringe sie vor Gott und prüfe, in welchem Geist eine Entscheidung steht und auf welche Weise das Gute gemehrt wird.»
Von der Krise zur Berufung
Auf dem Weg zum Aeschenplatz, dem Hotspot des städtischen Trubels, erzählt Widmer, was ihre Leidenschaft für Exerzitien geweckt hat: «Vor 15 Jahren steckte ich in einer grossen Krise. Eine berufliche Neuorientierung drängte sich auf. Ich habe dann Exerzitienkurse besucht und liess mich geistlich begleiten.» Widmer beschloss, diese Erfahrung an andere Menschen weiterzugeben, und absolvierte eine Langzeitweiterbildung im Lassalle-Haus oberhalb von Zug. Dies sei die beste Ausbildung, die sie je genossen habe. Immer stärker habe sie diesen Weg als ihre Berufung erlebt, der es ermöglichte, ihre Interessen für Psychologie und Spiritualität zu verbinden.
Die Exerzitien hätten sie zudem auf ihrem Genesungsweg unterstützt. Der Ordensgründer Ignatius von Loyola habe diese für seine Glaubensbrüder entwickelt. Sie seien eine Einladung in die geistliche Welt und zum Wachstum. «Ich empfinde es als Privileg, Menschen in einem Läuterungsprozess zu begleiten. Zu sehen, welch ganzheitliche Genesung der Glaube dabei ermöglicht, erfüllt mich mit Ehrfurcht.»
«Bewährt sich mein Glaube im Alltag?»
Inzwischen bahnen wir uns den Weg durch das Fussgängerlabyrinth am Aeschenplatz. Für Widmer gibt es keinen Platz in Basel, wo mehr Hektik und Chaos herrscht. «Wieso redet Gott gerade in dieser Hektik mitten im Leben?», will ich wissen. «Spiritualität in der Stille ist wunderbar», antwortet die Theologin. «Solche Time-outs können sehr bereichern. Aber soll sich unser Glaube nicht letztlich im Alltag bewähren?»
Der Verkehr und der Lärm nehmen zu und stören unser Gespräch. «In der Natur erleben wir eine bestärkende und bergende Umgebung, wir sind an einem Ort, an dem wir uns wohl fühlen», fährt die Pfarrerin fort. «In der Stadt sind wir mit Lärm, Schmutz und sozialer Not konfrontiert. Man fragt sich: Was mache ich überhaupt auf dieser Welt? Wo bin ich berufen, in meinem Leben etwas für andere zu verändern?»
Hoffnung gibt ihr in solchen Situationen, dass ein grösseres Ganzes, das Prinzip der Liebe, das sie Gott nenne, das Leben zusammenhält und die Dinge nicht zufällig geschehen. «Wenn ich mich mit dem Göttlichen verbunden fühle, dann kann ich mich leichter mit der Welt verbinden, wenn ich mich getragen fühle, kann ich mich besser auf Schwieriges einlassen.»
«Eine Gesellschaft ohne Kultur und Spiritualität ist anfällig»
Wir passieren das Kunstmuseum: ein wuchtiger grauer Bau, dessen Fassade gleichzeitig filigrane Linien aufweist. Kulturelles Schaffen und Spiritualität seien verwandt. «Musik, Literatur und Kunst sind Ausdrucksformen, das Unaussprechliche in Töne, Worte oder Bilder zu fassen», erzählt Widmer, die Gesangsunterricht nimmt. Eine Gesellschaft, in der Kultur und Spiritualität keine Rolle mehr spielen, sei anfällig für Ausbeutung, Selbstausbeutung und psychische Krankheiten, ist die Pfarrerin überzeugt.
Auf der Wettsteinbrücke überqueren wir den Rhein. Der rötliche Sandstein des Basler Münsters leuchtet sanft in der Abendsonne. Wir steigen die Treppe zum belebten rechten Rheinbord hinunter. Unter der Brücke sitzen zwei Junkies auf einer Wolldecke, daneben zwei Harasse Bier. Ein Dritter liegt zusammengerollt in seinem zerschlissenen Schlafsack. «Eine solche Begegnung führt einem die eigene Verletzlichkeit vor Augen», sagt Monika Widmer. «Das kann zutiefst verstörend und irritierend sein.»
«Manchmal kommt es bei den Strassenexerzitien vor, dass jemand losheult. Auch wenn wir uns zu den Fitten, Erfolgreichen und Tollen zählen, wir sind nicht davor gefeit, selbst ins Abseits zu geraten.» Letztlich sei die Begegnung mit der Not und dem Elend auch die Begegnung mit Jesus am Kreuz, meint Widmer. Es ist wie eine Begegnung mit dem Leiden Gottes an dieser Welt und eine Berufung, ins Handeln zu kommen.
Etwas erschöpft von unserem Marsch und vom Gespräch, setzen wir uns auf eine Bank mit Blick auf den Rhein und das Münster. Hinter uns liegt direkt das Obdachlosenheim der Heilsarmee. «Bei aller Ungerechtigkeit», schliesst Widmer, «es gibt in dieser Stadt so viel Orte, an denen viel Solidarität gelebt wird.»
Die ersten Strassenlaternen leuchten auf, die «Fährimaa»-Glocke läutet zur Überfahrt. Es scheint, die Welt ist mit sich an diesem Frühlingsabend im Reinen. Die Füsse schmerzen und sind schwer, die Gedanken und die Seele hingegen sind leicht.
Mystik im Alltag finden: ein Experiment mitten in der Stadt