Mutter sein in Afrika
Gondar, Äthiopien. Eine staubige Strasse mit riesigen Löchern, ab und zu ein paar Lehmhäuser, irgendwann eine Baracke, in die notdürftig medizinische Geräte gepackt wurden, die als «Augenklinik» angeschrieben ist. Wäre dieser Ort nicht Ziel einer Projektreise für die Schweizer Hilfsorganisation «Licht für die Welt», würde wohl kein Ausländer je einen Fuss in diesen abgelegenen Winkel der Welt setzen. Das war im Oktober letzten Jahres, lange bevor Corona zum Thema wurde. Es ist sechs Uhr früh. Hunderte Menschen, viele davon Mütter mit Kindern, kauern auf dem staubigen Vorplatz der Augenklinik. Auf einen Augenarzt kommen in Äthiopien 1,3 Millionen Menschen. Nur einmal im Jahr schaffen es zehn Augenärzte in diese Gegend, um innert einer Woche rund 7000 Menschen zu untersuchen.
Kein Geld fürs Augenlicht
Eine der Patientinnen ist Gododa Muhubam, ein abgemagertes, verängstigtes Mädchen, kauernd, neben ihrem Vater. Vor vier Monaten hat sie ihr Augenlicht verloren. Über Nacht. Als sie aufgestanden sei, erzählt sie, sei alles schwarz vor ihren Augen gewesen. Von da an habe sie ihre Mutter nicht mehr losgelassen, tagelang mit ihr geweint, sie gedrückt, ihre Hand gehalten. Gododa ist müde. Sie hat einen Fussmarsch von sieben Stunden hinter sich. Vier Monate hatte sie gewartet, um zum Arzt gebracht zu werden. Die Eltern mussten zuerst die Ernte einholen. Der Mutter habe das fast das Herz gebrochen. Doch ohne Ernte kein Überleben. Gododa versteht das. Auch, dass ihre Mutter nicht mitkommen konnte. Wer hätte sich sonst um die fünf Geschwister gekümmert?
Ihre Mutter sei das Beste, was ihr hätte passieren können. Sie sei immer da gewesen, erzählt sie. Und jetzt erst recht, in der Not. Gododa ist an der Reihe. Der Arzt ortet einen Grauen Star bei ihr. Dieser könnte mit einer 15-minütigen Operation behoben werden. 30 Franken kostet diese. Geld, das die Familie nicht hat, sagt der Vater. Seine Frau hatte ihm jedoch aufgetragen, alles zu verkaufen, das nötig sei, den Esel, die Kuh, ihre Hütte, einfach alles, das sie besitzen, um Gododas Augenlicht wiederherzustellen. Gododa lächelt, als sie hört, was ihre Mutter vorhat. Ein riskantes Vorhaben. Setzt dieses doch die Zukunft der gesamten Familie aufs Spiel.
Alles für die Kinder
Weiter in die Region Amhara, Dessie. Ein schmaler Pfad führt auf einen Hang mit mehreren Hütten. Zwei Buben, 6 und 4, laufen diesen hinunter. Ihre Hosen, die einzigen, die sie haben, sind löchrig, ihre Nasen laufen, Schuhe haben sie keine. Ihre Mutter, Amare Tigrinja, 30, geht mit den beiden in die kleine Hütte. Diese ist drei mal drei Meter gross, ausgestattet mit zwei Sofas, einer Feuerstelle und ein wenig Kochgeschirr. Kein Strom, kein fliessendes Wasser, keine Toilette. Vor drei Jahren verschwand Amares Ehemann über Nacht. Er ging nach Eritrea, gründete dort eine neue Familie. Unterstützung erhält sie keine von ihm. Ebenso wenig von einer Behörde. Amare ist völlig auf sich allein gestellt. Ohne Ausbildung. Ohne Geld.
Gleichzeitig wurde vor drei Jahren bei Abush, 6, ihrem mittleren Sohn, ein Nervenleiden diagnostiziert, das dafür verantwortlich war, dass er weder gehen noch laufen konnte. Amare hatte Glück und «Gottes Beistand», wie sie sagt. Ein Sozialarbeiter von «Licht für die Welt» entdeckte sie auf der Strasse, wo sie bettelte. Er bezahlt ihr diese Hütte und gab ihr 30 Franken Startkapital. Damit machte sie sich selbstständig. Mit dem Geld kaufte sie Kochgeschirr und Lebensmittel. Seither stellt sie Fladenbrote her, die sie an Hotels verkauft. Mit den Einnahmen hält sie ihre Familie über Wasser. Dank einer Therapie kann Abush heute laufen. Nur mit dem linken Fuss hinkt er noch ein wenig.
Lieben, erziehen, geben
Die drei Schweizer Schokoladetafeln, die Amare von uns erhält, gibt sie den Kindern. Die Jungs verputzen diese im Nu, kein Gedanke daran, sie mit der Mutter zu teilen. Amare strahlt. Geht es ihren Kindern gut, geht es ihr gut. Sie steht für viele Hunderttausende andere. Mutterliebe ist universell, überall auf der Welt zu finden. Amare gab, ohne eine Sekunde zu zögern, ihren Kindern die Schokolade. Gododas Mutter hätte ihr letztes Erspartes gegeben für das Augenlicht ihrer Tochter. Die Behandlung schlussendlich übernahm «Licht für die Welt». Mütter begleiten, leiden mit, sorgen sich, stecken zurück, lieben, erziehen, geben. Selbst dann, oder erst recht, wenn die Bedingungen so schwierig sind wie in Afrika.
Studien zeigen, dass Mütter in Afrika, global gesehen, es noch immer am schwierigsten haben. Es ist ein täglicher Kampf ums Überleben, um die Gesundheit, um die Zukunft ihrer Kinder. Weil sie diese lieben. Ein Hoch deshalb auf all die Mütter dieser Welt. Und besonders jene unter schwierigen Bedingungen, wie in Afrika.
Carmen Schirm-Gasser, kirchenbote-online
Mutter sein in Afrika