«Manchmal habe ich mich überfordert»
Werner Kriesi begleitet seit rund 30 Jahren Menschen beim Sterben. Nach seiner Pensionierung als Gemeindepfarrer leitete er ab 1998 bei Exit die Freitodbegleitung. Er hat mit hunderten Kranken und Verzweifelten gesprochen. Er selber ist mit seinen 90 Jahren geistig und körperlich topfit und tritt immer noch öffentlich auf. Im Februar war er in der Kirchgemeinde Münchenstein BL zu Gast und absolvierte ein volles Programm. Am Nachmittag besucht er die Seniorinnen und Senioren, am Abend hält er einen Vortrag im vollbesetzten Saal. Leidenschaftlich spricht er über sein Engagement und seine Überzeugungen und fesselt das Publikum mit seinen Erlebnissen als Freitodbegleiter.
Keine Routine
Kriesi weiss, dass das Thema umstritten ist, und klärt gleich zu Beginn Grundsätzliches: «Sie dürfen dafür, aber auch dagegen sein.» Wenn Hoffnung bestehe, dass jemand eine Krise überwinden kann, helfe Exit nicht. Kriesi ist aber überzeugt davon, dass es Krankheiten gibt, mit denen ein Mensch weder leben kann noch muss. Schon als Gemeindepfarrer stand er regelmässig Krebskranken bei. Wer im Endstadium an der Krankheit leide, wähle in der Regel den Freitod. «Ich war selber viele hundert Male dabei, wenn ein Mensch seine letzte Stunde erlebte», berichtet der Pfarrer, man glaubt ihm, dass er dies bis heute nicht als Routine empfindet. Wie auch die vielen Gespräche und letzten Begegnungen nicht, die er mit Sterbewilligen geführt hat: «Wenn man ganz nahe an den Menschen ist, muss es einen berühren.»
Kriesi wächst in einer freikirchlichen Familie auf. Doch das Bild vom strafenden Gott überzeugt ihn nicht und so studiert er an der Universität Basel Theologie. Er akzeptiere es, wenn jemand glaubt, dass man als Christ seine Sterbestunde nicht selber festlegen darf, meint er. Für ihn stellt sich diese Frage nicht: «Mit Gott hat das nichts zu tun, sondern mit moderner Medizin.» Diese sei der Grund dafür, dass etwa in der westlichen Welt die Frauen heute kaum mehr im Kindbett sterben. Mehrmals betont der Pfarrer, dass Krankheiten natürliche Ursachen hätten und keine Gottesstrafe seien. «Ein strafender Gott ist eine der schlimmsten menschlichen Erfindungen. Diese Gotteserziehung ging mir lange nach.»
Während seinen 30 Jahren im Pfarramt hat Werner Kriesi viele Schicksale erlebt. Den Umgang damit könne man nicht einüben, meint er. Wenn er Entlastung braucht, unternimmt er ausgedehnte Wanderungen und «läuft sich frei» und er gesteht: «Manchmal habe ich mich auch überfordert, und das ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen.»
Heikle Entscheide
Werner Kriesi schildert Ergreifendes und blendet das Dilemma nicht aus: Den Umgang mit Menschen, die sterben möchten, weil sie an schweren körperlichen Gebrechen oder psychischen Erkrankungen leiden. Die Hilfe in den Freitod würde bei ihnen den Sterbeprozess einleiten, nicht beschleunigen. Es seien diese Fälle, die zu Vorwürfen führen, sagt Kriesi. Erlebt hat er sie alle: Den Mann mit den psychischen Problemen, der sich vor 15 Jahren noch einen Monat gab und bis heute lebt. Die Frau, der man den Freitod nicht bewilligen wollte und die Kriesi anrief, bevor sie sich vor den Zug warf, weil sie es nicht mehr aushielt. Oder die junge Querschnittsgelähmte, die man zwei Jahre lang bat, ihren Entschluss zu überdenken, bevor sie sich nicht mehr damit abfinden wollte und von Exit Hilfe erhielt. «Wer gibt mir das Recht, jemandem zu sagen, wie lange er oder sie warten muss?», fragt der Pfarrer rhetorisch.
Karin Müller, Kirchenbote-online
Buchtipp: Suzann-Viola Renninger: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer – Werner Kriesi hilft sterben», Limmat-Verlag 2021, 256 Seiten, ca. 30 Franken.
«Manchmal habe ich mich überfordert»