Lieber Thesenanschlag oder Reformationswurst?
Ulrich Wilhelm, beginnen wir mit einem Spiel. Was behagt Ihnen mehr? Die Luther- oder die Zwinglibibel.
Ich gebrauche beide: Die Zürcher Bibel ist genauer, die Lutherbibel dagegen poetischer, vor allem bei den Psalmen. Als Kirchenmusiker hat man viele lutherische Bibeltexte im Ohr, sei es bei Bachkantaten oder beim Brahmsrequiem. Da habe ich Mühe, auf die Zürcher Bibel zurückzugreifen.
Wittenberg oder Zürich?
Wittenberg gibt touristisch viel her, seit man die Stadt restauriert hat. Aber die DDR hat es geschafft, das ganze Umland in eine konfessionsfreie, atheistische Zone zu verwandeln, insofern ist das Erlebnis von Wittenberg sehr zwiespältig. Man hat das Gefühl, man sei im Herzen der Reformation, ringsum jedoch können die Leute mit Luther wenig anfangen. Von daher ist mir Zürich lieber.
Lutherisches oder reformiertes Abendmahl?
Reformiertes.
Luthers Thesenanschlag oder Zwinglis Reformationswurst?
Der Thesenanschlag hatte Auswirkungen auf ganz Europa, vom Fastenbrechen mit der Wurst hat man ausserhalb von Zürich nicht viel gehört. Die reformierte Theologie und das reformierte Kirchenverständnis sind ja erst mit Calvin international wirksam geworden. Insofern ist der Thesenanschlag wichtiger.
Das Zwinglijahr geht zu Ende. Wie fanden Sie die Feierlichkeiten?
Als Pfarrer einer Solothurner Kirchgemeinde konnte ich keine der Anlässe besuchen. Ich selbst habe einige Veranstaltungen zu Zwingli hier in der Gemeinde durchgeführt und das ganze Jahr hindurch nahm ich in der Predigt Bezug auf den Reformator.
Wie kamen die Veranstaltungen an?
Sehr gut. Die Leute interessieren sich für Zwingli und diesen Teil ihrer Geschichte. Aus meiner Sicht ist 2019 nicht das Ende der Jubiläen. In der Schweiz führten die Städte die Reformation nach und nach ein. Und der Startschuss zur Reformation geschah genau genommen nicht 1519 mit dem Stellenantritt Zwinglis am Grossmünster. Zwingli wollte die katholische Kirche am Anfang reformieren. Erst das Fastenbrechen mit der Wurst führte zum Bruch. Auch Luther trat als praktischer Reformator erst mit seinen Invokavit-Predigten nach der Zeit auf der Wartburg in Erscheinung. Beides, die erste Invokavit-Predigt in Wittenberg und das Fastenbrechen in Zürich, geschah 1522 am gleichen Tag, am 9. März.
Einer der Höhepunkte bildete der Zwingli-Film in den Kinos.
Als ich den Film zum ersten Mal gesehen hatte, war ich enttäuscht. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Doch nachdem ich ihn noch zweimal gesehen hatte, gefiel er mir gut.
Warum?
Der Film setzt zu viel Wissen voraus, das er szenisch andeutet, etwa Zwinglis Liebschaft in Einsiedeln, die Reisläuferei oder die Begegnung mit Luther. Die Zuschauer, die diesen geschichtlichen und theologischen Hintergrund nicht haben, verstehen dies nicht. Für Konfirmanden ist der Film deshalb nicht geeignet. Sie fühlen sich überfordert und gelangweilt. Schade.
Man kann dieses Wissen heute kaum noch voraussetzen.
Ja, das breite Publikum hat der Film vermutlich nicht erreicht. Ein Verdienst des Films ist es, dass er einen sehr sympathischen Zwingli zeigt. Das strenge Zwinglibild stimmt historisch nicht, der Reformator war lebensfreudig, umgänglich, witzig und musikalisch. Ich besuchte eine Stadtführung über Zwingli. Die Historikerin beschrieb Zwingli als strengen, lieblosen und lustfeindlichen Reformator und als moralischen Tugendwächter. Das stimmt nicht. Selbst die Bordelle in Zürich schloss Zwingli nicht. Die moralische Enge kam mit seinen Nachfolgern.
Was ist der wichtigste Aspekt in der Theologie von Zwingli?
Die Bundestheologie, die Zwingli entwickelte und die prägend für seine Theologie wird. Und der Reformator nahm das Alte Testament absolut ernst, im Gegensatz zu Luther. Dieser ganz eigene Akzent in der reformierten Theologie verbindet die reformierte Kirche mit dem Judentum.
Bundestheologie heisst?
Dass Gott mit den Menschen immer wieder neu einen Bund schliesst, auch wenn der Mensch diesen bricht. Diese Auffassung ist zentral bei Zwingli und prägt später die reformierte Theologie.
Was bedeutet Zwingli für den Kanton Solothurn?
Ich hatte mein erstes Pfarramt in Appenzell Ausserrhoden. In der Ostschweiz war Zwingli viel präsenter als hier in Solothurn. Man feierte das sitzende Abendmahl, das der Reformator eingeführt hatte. In Appenzell nahm man Zwingli auch nicht als Zürcher wahr, sondern als Toggenburger und Bergler. In einer Diaspora wie im Kanton Solothurn steht die Ökumene stärker im Vordergrund, die Reformation ist kaum ein Thema.
Was ist das Erbe von Zwingli im Kanton Solothurn?
Dass die reformierte Kirche hier wie in der ganzen Schweiz demokratische Strukturen besitzt und das Milizsystem kennt. So können auch Laien ihr Know-how basisdemokratisch einbringen. So tat es auch Zwingli. Er suchte immer den Konsens. Er kannte das von den Alpgenossenschaften und bäuerlichen Strukturen im Toggenburg, wo sein Vater Ammann war. Seine Reformen geschahen immer in Absprache mit dem Rat. Der Rat hat letztlich die Reformation in Zürich eingeführt.
In der Schweiz arbeiten viele Pfarrerinnen und Pfarrer aus Deutschland. Ist es kein Problem, dass diese Zwingli und seine Theologie kaum kennen?
Doch, das ist eine Schwierigkeit. Man sollte den deutschen Kolleginnen und Kollegen einen ausführlichen Einführungskurs anbieten, in dem sie sich mit reformierter Theologie und Gepflogenheiten bekannt machen. Und dies, bevor sie ihren ersten Gottesdienst feiern. In Deutschland haben Pfarrpersonen eine viel stärkere Stellung. Pfarrerinnen und Pfarrer sind dort die Chefs. Da müssen sich die deutschen Kolleginnen und Kollegen in der Schweiz umstellen.
Was würde Zwingli sagen, wenn er heute durch Schönenwerd oder Olten spazieren würde?
Er würde sich über die vielen Menschen mit völlig anderen Religionen wundern.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 6. Januar 2020
Lieber Thesenanschlag oder Reformationswurst?