News von der Glarner reformierten Landeskirche

Liebe auf Geheiss

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04.04.2016
Zwangsheirat ist eine Realität in der Schweiz. Menschen unterschiedlicher Herkunft und religiöser Zugehörigkeit sind von Zwangsheiraten betroffen, selbst Männer. Die Beratungsstelle zwangsheirat.ch bietet Auswege.

Merdita aus Mazedonien hat seit sieben Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Sie flüchtete aus ihrem Elternhaus vor einer Zwangsheirat. Die junge Frau hatte einen Schweizer Freund. Als ihre Eltern das herausfanden, durfte sie nicht mehr aus dem Haus. Als sie die Drohung erhielt, dass sie mit einem Mann in den USA verheiratet werden sollte, sah sie nur einen Ausweg: Die Flucht. Seither führt sie ihr Leben ohne Kontakt zu Eltern und Verwandten.

Merditas Schicksal ist kein Einzelfall. Pro Woche gehen bei der Beratungsstelle zwangsheirat.ch bis zu vier Fälle ein. Nach und vor den Sommerferien steigt die Anzahl der wöchentlichen Anfragen auf neun. «In den Sommerferien reisen immer wieder junge Erwachsene in die alte Heimat und werden zwangsverheiratet», erzählt Anu Sivaganesan, Leiterin der Fachstelle zwangsheirat.ch.

Gewalt auf vielen Ebenen
Wer so verheiratet wird, erfährt eine Menschenrechtsverletzung: «Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden», heisst es in Art. 16 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Eine Zwangsehe liegt dann vor, wenn sich mindestens einer der beiden zur Heirat gezwungen fühlt. «Entweder findet das ‚Nein’ kein Gehör oder man wagt es erst gar nicht, sich zu widersetzen, weil der Partner, die Familie, Verwandte oder Bekannte oder die Gemeinschaft Druck ausüben», sagt Sivaganesan. Jugendliche und junge Erwachsene werden psychisch unter Druck gesetzt und emotional erpresst. Sie dürfen die Wohnung nicht mehr verlassen, werden eingesperrt, kontrolliert und schikaniert. «In Extremfällen kommt es zur Entführung, zu Schlägen oder sexueller Gewalt.»

Gesetzlich ist die Zwangsheirat in der Schweiz verboten und wird geahndet. Trotzdem ist sie Realität und betrifft Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, Kulturen und Religionen. Genaue Zahlen gibt es nicht. 2012 zeigte erstmals eine Studie der Universität Neuenburg das Ausmass in der Schweiz. Demnach wurden 2010/2011 über 300 Frauen unter Druck gesetzt, eine Ehe einzugehen, die sie nicht wollten. Die Untersuchung zeigt noch weiteres: In dieser Zeitspanne wurden 384 junge Frauen gezwungen, ihre Liebesbeziehung zu beenden. In 659 Fällen verzichteten sie unter Druck auf die Scheidung.

In der Schweiz betrifft es Angehörige der kosovarischen, türkischen, kurdischen und tamilischen Gesellschaft wie auch Angehörige von kleineren Gemeinschaften wie der Roma oder der orthodoxen Christen aus dem Nahen Osten. «Zwangsverheiratungen kommen hauptsächlich in traditionalistisch-familiären Gruppen vor», sagt Anu Sivaganesan.

«Oft sind die Familien schlecht in die Gesellschaft integriert»
Die Religion spiele dabei keine zentrale Rolle. «Doch es besteht ein indirekter Einfluss.» Im Islam verbietet die Hadith, eine Überlieferung von Mohammed, die Zwangsehe ausdrücklich. Im Alten Testament der Bibel sind Zwangsheiraten in gewissen Fällen vorgeschrieben, im Neuen Testament kommen diese nicht mehr vor. Im Hinduismus jedoch ist eine Heirat ausserhalb der eigenen Kaste gemäss den Heiligen Schriften unmöglich. «Der schweizerische Kontext zeigt, dass Zwangsheiraten nicht in erster Linie mit der Religion zu tun haben», sagt die Juristin Sivaganesan. «Vielmehr beruhen sie auf traditionellen, patriarchalen und familiären Vorstellungen.» Die Religion werde als letzte und oberste Argumentationsinstanz missbraucht.

«Der Hochzeitstag war mein persönlicher Weltuntergang»
Ein Hauptgrund für Zwangsheiraten liege im familiären und gesellschaftlichen Druck. Auch Männer können davon betroffen sein. «Die grösste Sorge der Eltern ist, was die Leute sagen. Ohne diesen Zwang hätten viele Eltern ein Einsehen.» Der 36-jährige Evren mit kurdisch-türkischen Wurzeln spricht aus bitterer Erfahrung. Seine Ehefrau wurde ihm von seinen Eltern «empfohlen». Erste Kontakte fanden über das Internet statt, weil die zukünftige Braut in der Türkei lebte. Die Familien hatten die Hochzeit vereinbart. «Du wirst zwar gefragt, ob du willst oder nicht», erzählt Evren, «aber die Eltern haben ihr Einverständnis in die Heirat längst gegeben. Man sagt Ja aus dem Gefühl heraus, den Eltern etwas zu schulden.»

Evren hat geheiratet, mit dem Gefühl «eines persönlichen Weltuntergangs» am Hochzeitstag. Die Ehe funktionierte nicht. Es kam zur Trennung. «Die Eltern wollen ihren Fehler bis heute nicht einsehen», sagt der junge Mann.

Zwangsehe kein Schicksal
Die Fachstelle zwangsheirat.ch bietet den betroffenen Personen und Angehörigen Unterstützung an. «Jede Familie muss ihre eigene Lösung finden», sagt Anu Sivaganesan. «In der Beratung erfahren Betroffene, dass man Freiheit und Respekt Schritt für Schritt erlangen kann.» Die Berater entwickeln mit Betroffenen eine situationsgerechte und nachhaltige Lösung und betreuen und begleiten sie. Dabei gehen sie umsichtig und vorsichtig vor. «Die Gefahr, die aus dem Umfeld droht, kann für die Betroffenen erheblich sein.» Doch Sivaganesan betont, dass Zwangsheirat kein Schicksal ist: «Es gibt verschiedene Wege, um ihr zu entkommen.» Für die 36-jährige Merdita bestand der Ausweg in der Flucht. Lehrpersonen, Sozialarbeiter und Berater der Fachstelle begleiteten ihr Abtauchen. Der Schlüssel zur Freiheit liege jedoch in einem selber, sagt die junge Frau. «Du musst den Willen haben, auszubrechen und zu sagen: Jetzt fängt mein neues Leben an.»

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Adriana Schneider / Kirchenbote / 4. April 2016

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