«Jesus wäre häufig im ‚Blick’ gewesen»
Herr Baumgartner, wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben?
Ich gebe seit Jahren Schulungen zur Kommunikation an verschiedenen theologischen Ausbildungsstätten, unter anderem seit über 20 Jahren am Theologischen Seminar Aarau. Aus all meinen Vortragstätigkeiten hatte ich so viel Material, das ich nun zu einem Ratgeber zusammenfassen wollte.
Sie schreiben, dass das Buch kein «Kirchen-Marketing-Rezeptbuch» sein will.
Es ist ein handwerkliches Buch inklusive Checklisten und kann als Ratgeber dienen. Aber nicht in dem Sinn, dass es konkrete Tipps und Tricks liefert, die man anwenden soll, und dann wird alles gut. Kommunikation ist immer ein Ausdruck unseres Verhaltens. Wenn die Kommunikation der Kirchen zum Teil falsch wahrgenommen wird, hat dies auch mit ihrem und unserem Verhalten zu tun. Dazu haben wir uns im Buch mit zwei Studien befasst, die aufrütteln sollen.
Eine der Studien befasst sich mit dem Image der Freikirchen in der Schweiz: Wie sieht dieses Image aus?
Die Freikirchen sind weitgehend unbekannt. Wenn man Herrn und Frau Schweizer am Telefon befragt, was Ihnen zu den Freikirchen in den Sinn kommt, sagen über 40 Prozent gar nichts. Von denen, die mit einer Freikirche Kontakt hatten, erklären 19 Prozent, dieser sei eher negativ gewesen. Es sollte zu denken geben, dass jeder Fünfte, der einmal eine Freikirche besucht hat, schlechte Erfahrungen gemacht hat.
Auf was führen Sie das zurück?
Das hat mehr mit dem Verhalten als mit der Kommunikation zu tun. So hatten viele, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren mit Freikirchen in Kontakt kamen, ungute Erlebnisse. Damals vertraten die Freikirchen starke moralische Werte, die sie mit Vorschriften verbanden. Sie waren weit entfernt von der Gesellschaft und zogen sich zurück. Die Freikirchen begannen sich erst Anfang der Neunzigerjahre zu öffnen. Dieser Prozess ist noch am Laufen.
Konzentrieren sich die Freikirchen zu stark auf Sexualethik und die Mission und zu wenig auf die Botschaft der Nächstenliebe?
Die Freikirchen haben sich bisher einerseits nicht darüber verständigt, was ihre Kernbotschaft ist. Andererseits lassen sie sich durch gesellschaftspolitische Themen fremdbestimmen wie etwa die Homosexualität. Diese ist theologisch irrelevant. Es gibt gerade einmal sechs Bibelstellen, die Homosexualität am Rand erwähnen. Aber einige Freikirchen glauben, man müsse aus moralischer Sicht dagegen Stellung beziehen. Das schadet ihrem Image und kollidiert mit den Schlüsselaussagen des Evangeliums.
Die einzige Freikirche mit positiven Echo ist die Heilsarmee: Bedeutet dies, die Gesellschaft schaut stärker auf Taten als auf Worte?
Absolut. Das ist tief biblisch. Wort und Tat gehören zwingend zusammen. Die Heilsarmee ist ja inzwischen das grösste private soziale Werk in der Schweiz. Sie ist präsent mit ihren Topfkollekten in der Adventszeit, aber auch mit ihrer Arbeit für sozial Benachteiligte oder im Flüchtlingsbereich. Die Auswertung der Studie hat ergeben, dass dort, wo die Freikirchen etwas Konkretes anbieten und spürbar sind, die Medien durchaus positiv eingestellt sind und gewinnend darüber berichten.
Die Freikirchen investieren Millionen in ihre Kampagnen: Warum gelingt es ihnen trotzdem nicht, die Gesellschaft mit ihrer Botschaft anzusprechen?
Der gesellschaftliche Trend läuft gegen die Institution der Kirche. Die soziologische Studie «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» von 2011 zeigt, dass rund 320 000 Katholiken am Wochenende einen Gottesdienst besuchen, 250 000 Leute aus den Freikirchen und 170 000 aus den reformierten Landeskirchen. Das sind zusammengenommen keine zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung. Die Kirchen und das Christentum sind zu einer Randerscheinung geworden. Dieser gesellschaftliche Verlust an Relevanz setzt sich fort. Dies spüren auch die Freikirchen, obwohl ihre Mitglieder aktiver sind als diejenigen der Landeskirchen.
Wie würden Sie das Image der Landeskirchen umschreiben?
Die Landeskirchen profitieren im Gegensatz zu den Freikirchen immer noch von einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Akzeptanz. Sie sind staatlich anerkannt, ihre Glaubwürdigkeit ist hoch. Die Abstimmung zur Trennung von Kirche und Staat der Jungen FDP in Zürich etwa wurde mit einer Zweidrittelsmehrheit abgelehnt. Die Landeskirchen geniessen nach wie vor einen Vertrauensbonus in der Bevölkerung. Man findet, dass sie mit ihren sozialen Werken einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten, auch mit ihren seelsorgerlichen Diensten, die über Taufe, Trauung und Abdankung hinausgehen. Schaut man jedoch die Mitgliederstatistiken an, so sind die Austrittszahlen hoch. Die Freikirchen sind einigermassen lebendig, wachsen zwar nicht, sind aber stabil, während die Landeskirchen laufend Mitglieder verlieren. Dies spricht nicht für ihre Lebendigkeit.
Warum gelingt es den Volkskirchen nicht, die grosse Masse anzusprechen?
Wir feiern seit letztem Jahr das Reformationsjubiläum. Vor 500 Jahren war eine grosse Reformation nötig. Doch ich denke, die Kirche muss sich immer reformieren. In den meisten Unternehmen hat die Organisation in Teams die alten hierarchischen Strukturen abgelöst, auch in der Schule arbeitet man heute mit verschiedenen Lernformen. Nur die Kirchen setzen immer noch ausschliesslich auf Frontalunterricht. Das ist nicht mehr zeitgemäss, wenn man heute eine Botschaft unter die Leute bringen und sich gesellschaftlich positionieren will. Hier kommen die Kirchen unter Druck. Sie müssen sich überlegen, wie sie die Leute ansprechen und erreichen können. Diese wollen nicht mehr nur angepredigt werden.
Was müssten die Volkskirchen ändern?
Ein gutes Beispiel ist die englische Kirche mit «fresh expressions». Man versucht nicht, die grossen Kirchen zu füllen, sondern geht zu den Menschen ins Quartier. Man ist präsent an Märkten und Dorf- oder Stadtfesten, dort, wo sich die Leute eh schon aufhalten. Eine empirische Studie der Universität Bayreuth untersuchte unter dem Titel «Nutella oder Gottesdienst?», wie sich Sozialtrends auf gottesdienstliches Teilnahmeverhalten auswirken. Auf die Frage, was sie am Sonntagmorgen vorziehen, ein Nutella-Brot oder den Besuch eines Gottesdienstes, sprach sich die Mehrheit für Nutella aus. Das zeigt, dass der traditionelle Sonntagsgottesdienst an der gesellschaftlichen Realität vorbeizielt.
War dies nicht immer so, nur gab es früher einen sozialen Druck, den Gottesdienst zu besuchen?
Einerseits existierte ein moralischer Druck. Andererseits wusste man aber, was es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt brauchte, Tugenden wie etwa gute Umgangsformen. Diese Tugenden bauen auf den christlichen Werten. Man wusste, wenn ich die christlichen Werte wachhalten will, dann ist es gut, in die Kirche zu gehen und zuzuhören, sonst verlieren diese Tugenden an Relevanz. Genau dies kann man heute beobachten.
Pfarrer Ernst Sieber ist für Sie das Beispiel für eine erfolgreiche Kommunikation. Warum?
Wie die Heilsarmee, steht Pfarrer Sieber für das Zusammengehen von Wort und Tat und für eine kreative Verkündigung. Er brillierte als Fernsehpfarrer, als er aus einem Bilderrahmen ein Kreuz bastelte oder seinen Esel mitbrachte. Er wagte freche Dinge und gewann Aufmerksamkeit. Und seine Taten sprechen für sich. So errichtete er etwa illegal Baracken für Obdachlose. Er packte an, um das Drogenelend auf dem Zürcher Platzspitz zu bekämpfen. Sein soziales Werk entstand in einem schwierigen gesellschaftlichen Kontext und machte ihn bekannt. Er scheute sich nicht, sich geradlinig mit Wort und Tat einzusetzen.
Sie kritisieren auch die Zusammenlegung von Kirchgemeinden als ihre geordnete Beerdigung? Warum sind solche Strukturbereinigungen für Sie erfolglos?
Meistens geschehen diese Strukturbereinigungen top down. Es entsteht keine Kreativität, wenn von oben Sparen verordnet wird. Es funktioniert besser, wenn man versucht, von unten nach oben neue Ideen einzubringen. Viele Leute haben etwas beizutragen, die Kirche lebt ja von Freiwilligen. Wenn es den Kirchen nicht mehr gelingt, Leute mit persönlichem Engagement und guten Ideen für sich zu gewinnen, wird es schwierig.
Was war Jesus’ Rezept, dass seine Botschaft so durchschlagend war?
Jesus lebte mitten in der Gesellschaft, mit den Menschen. Er brachte Beispiele aus dem Alltag. Die Leute erkannten sich wieder. Er lebte seine überraschende Botschaft, machte die Leute neugierig, so dass sie ihm folgten. Hätte es damals den «Blick» gegeben, wäre Jesus sicher häufig auf der Frontseite gewesen, weil etwas Spektakuläres passierte. Er stellte nie einen Machtanspruch, sondern lebte für eine neue, lebendige Lehre. Am Sonntag kann man zwar zur Ruhe kommen, aber er bereitet die Leute zu wenig auf ihren Alltag vor. Die Kirchen müssten sich am Beispiel von Jesus überlegen, wie sie die Menschen am Sonntag ausrüsten können für ihren Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag.
Interview: Karin Müller, kirchenbote-online, 16. August 2019
«Jesus wäre häufig im ‚Blick’ gewesen»