News von der Glarner reformierten Landeskirche

Innehalten zum Aushalten?

von Johanna Göring
min
19.11.2023
Achtsam innehalten, durchatmen, zur Ruhe kommen. In unserer perfektionistischen Welt Gold wert. Nur wie lange funktioniert das und ab wann wird aus dem Innehalten ein Mittel des Aushaltens?

«Läuft bei Dir?», «Mach vorwärts!»,  «Hopp, de Bäse!»- das Motto «höher, schneller und weiter» scheint einen deutlichen Eindruck in unserer Sprache und unserer Gesellschaft hinterlassen zu haben. Wir springen, gumpen, rennen, secklen, kurz, rasen was das Zeug hält. Im Alltag von einem Termin zum nächsten, in der Freizeit die Berge hoch und runter und kreuz und quer über Ländergrenzen. Gleichzeitig sind wir immer auf dem Laufenden, was das Weltgeschehen und die Politik angeht, die Wohnung ist sauber, Kind und Haustier wohlerzogen, alles ist ordentlich dem Recycling zugeführt, wir ernähren uns gesund und machen drei mal die Woche Sport - weil, ja, warum eigentlich?

Ob ich Lust drauf habe, das alles so zu machen, das hat mal wieder niemand gefragt. Natürlich hätte ich zehn Minuten Zeit, um mal wieder hinter der Heizung Staub zu saugen oder mit der Nagelschere die Rasenkanten zu trimmen. Will ich das denn? Muss ich das denn? Ich finde, dass ich das nicht will und nicht muss. Und an dieser Stelle muss ich innehalten und fragen woher denn solche Erwartungshaltungen an mich stammen? Und schnurstracks wandern meine Gedanken zu Social Media. Da finden sich sehr viele Erwartungen, die an mich herangetragen werden (und seit ich auf Instagram gesehen habe, wie andere ihre Heizungen reinigen, denke ich tatsächlich drüber nach, dass ich meine Heizungen anscheinend immer falsch und unvollständig gereinigt habe). Und ich stelle fest: Es ist nicht nur Social Media. Es sind auch die «Tipps & Tricks» in Frauenzeitschriften, die genau solche Stereotype perpetuieren. Es sind die Frauenfiguren in Romanen, die perfekt sind (abgesehen von ein paar süssen, kleinen Schwächen). Es sind die Frauen in den Filmen, die Übermenschliches leisten müssen, aber bitte dabei trotzdem herausragend aussehen sollten.

Und diesem Druck, der von allen Seiten kommt, soll ich standhalten können, indem ich «innehalte». Meinem Geist und Körper mehr Achtsamkeit schenke, diesen Tee kaufe oder jenen Sportkurs buche. Aber wird dann nicht schnell aus dem Innehalten ein Mittel des Aushaltens? Und stünde es uns nicht besser zu Gesicht, würden wir von den überzogenen Erwartungen an Menschen zurückstecken und einander wieder Mensch sein lassen, mit Stärken und Schwächen? Die Jagd nach dem perfekten Leben, das gnadenlose (Ver-)Urteilen untereinander, da müssten wir innehalten - damit wir andere (und uns selbst) nicht ins Aushalten stürzen. 

«Come, as you are», darüber haben schon Nirvana in den 1990ern ein Lied geschrieben. Wahrscheinlich mit einem anderen Hintergrund, als Jesus in der Bibel zitiert wird: «Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen». Und auch das nimmt den Druck: Ich werde nicht beurteilt nach Leistung, Aussehen, Sünden und guten Taten, Lifestyle oder Karriere (und Haushalt). Es scheint so, dass wir angenommen werden, so wie wir sind. Das ist vielleicht in einer perfektionistisch funktionierenden Gesellschaft nicht oft zu spüren, aber warum die Idee nicht ins Hier und Jetzt übertragen?

Also: Ich werde mich hochmotiviert den Freuden der Wollmauszucht zuwenden und geniesse den explodierten Garten. Auf dass das Innehalten weniger dem Aushalten dient, sondern dem Genuss des Lebens.

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