«Ihr seid doch behindert, das könnt ihr gar nicht»
Herr Hanny, für die Fortbewegung benötigen Sie einen Rollstuhl und für manche Dinge im Alltag sind Sie auf Unterstützung angewiesen. Dafür schwirren viele Begriffe umher: Menschen mit Behinderung, Menschen mit Beeinträchtigung, Behinderte. Welchen bevorzugen Sie?
Urban Hanny: Mir sagt man einfach Urban. (lacht) Spass beiseite: Es kommt mir nicht darauf an. Manche bevorzugen die Bezeichnung «Beeinträchtigung», weil Jugendliche «behindert» als Schimpfwort benützen. Es hängt immer von der Situation ab.
Corinne Wohlgensinger: In der Behindertenrechtskonvention bezeichnet Beeinträchtigung eine medizinisch messbare Schädigung. Das kann auch ein kognitives oder psychisches Problem sein. Bei Urban wäre es vielleicht der Umstand, dass er ohne Rollstuhl nicht gehen kann. Von einer Behinderung spricht man, wenn ein Mensch mit Beeinträchtigung auf Barrieren stösst, die ihn an der vollen Teilhabe hindern. Das können bauliche Barrieren sein, aber auch Barrieren im Kopf von Menschen.
Wie hat sich die Stellung von Menschen mit Behinderung in den vergangenen Jahrzehnten geändert?
Hanny: Früher waren wir in der Öffentlichkeit kaum sichtbar. Das liegt aber auch an uns, dass wir uns zu wenig zugetraut haben.
Wohlgensinger: Vor Jahrzehnten waren Menschen mit Beeinträchtigung Fürsorgeobjekte. Man hat sie in einer Institution versorgt, geschaut, dass sie zu essen haben, zeitig ins Bett gehen und ein trockenes «Füdle» haben. Das hat sich massiv geändert.
Man hat sie in Heimen parkiert?
Wohlgensinger: Sie wurden «versorgt», auch in einem fürsorgerischen Sinn. Man hatte das Gefühl, diesen armen Geschöpfen müsse man schauen. Damit nahm man ihnen aber auch das Recht auf Selbstbestimmung. Mit der Behindertenrechtskonvention (siehe Kasten) wurde vor zehn Jahren besiegelt, dass Menschen mit Beeinträchtigung Rechtssubjekte sind und nicht nur fürsorgerische Objekte.
Was bedeutet das konkret?
Wohlgensinger: Das Ziel ist zum Beispiel, dass jeder Mensch entscheiden kann, wo er wohnt: mit wem zusammen, in einem Heim oder privat. Das bedeutet, dass das Geld von den Kantonen nicht mehr direkt an die Institutionen gehen soll, sondern an die Menschen mit Beeinträchtigung. Diese können dann entscheiden, welche Dienstleistungen sie benötigen, und diese einkaufen. Im Kanton St. Gallen wird das Behindertengesetz zurzeit entsprechend revidiert.
Hanny: Die Institutionen verstehen sich dann als Dienstleistungsbetriebe.
Wohlgensinger: Und wenn man privat wohnt, kann man mit dem Geld zum Beispiel jemanden für die Betreuung anstellen, der einen zweimal täglich unterstützt.
Corinne Wohlgensinger und Urban Hanny
Corinne Wohlgensinger ist Dozentin an der Fachhochschule OST und spezialisiert auf Fragen zu Ethik und Behinderung. Sie hat das Forschungsprojekt «Segel» zusammen mit Judith Adler von der Hochschule Luzern initiiert, welches zum Ziel hat, schwierige Entscheide rund um das Thema Selbstbestimmung gemeinsam mit Menschen mit Beeinträchtigung auf Augenhöhe zu diskutieren. Urban Hanny ist Mitarbeiter im Projektteam «Segel» und lebt in Rorschach.
Was sind weitere Themen, die heute diskutiert werden?
Hanny: Liebe, Sexualität und Kinderwunsch ist ein Thema. Viele sagen: Ihr seid doch behindert, das könnt ihr gar nicht, ihr seid gar nicht fähig dazu.
Im Flyer vom Team «Segel» (siehe Kasten) stehen Diskussionsfragen: «Dürfen Paare mit einer Beeinträchtigung Sex auf ihrem Zimmer haben?» oder: «Soll man in der Institution Alkohol für alle erlauben?» Ist es nicht selbstverständlich, dass erwachsene Menschen solche Dinge selbst entscheiden?
Hanny: Nein. Solche Fragen sind allgegenwärtig und nicht aus der Luft gegriffen.
Wohlgensinger: Das Alkoholbeispiel ist gang und gäbe. Wir waren in einer Institution, in der Alkohol generell verboten war, für alle. Die Süssigkeiten waren eingeschlossen, der Kühlschrank abgeschlossen.
Weshalb?
Wohlgensinger: Menschen mit einer Beeinträchtigung machen es einem leicht, über sie zu bestimmen. Es gibt neben dem Recht auf Selbstbestimmung in der sozialen Arbeit auch eine Pflicht zur Fürsorge. Die Frage ist, was in welcher Situation Priorität hat. In einer Institution habe ich als Betreuungsperson das Gefühl, ich müsse schauen, dass sich der Urban nicht in Gefahr begibt. Daher stellt sich die Frage, wie weit diese Fürsorge gehen soll.
Eine heikle Frage.
Hanny: Oh ja!
Wohlgensinger: Es ist ein grosser Aushandlungsprozess. Im Fall der Institution, in der Alkohol verboten war, haben wir mit den Fachleuten und den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Besprechung gemacht. Dort wird jetzt jeder Einzelfall separat angeschaut: Welche Medikamente muss jemand nehmen? Trinkt er überhaupt gern Alkohol?
Wie steht es um den Zugang von Menschen mit Beeinträchtigung zum Arbeitsmarkt?
Hanny: Es gibt für uns zu wenig Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt. Vermutlich scheuen viele Firmen den Mehraufwand. Dabei wäre es für sie ein Prestigegewinn.
Woher kommt der Mehraufwand?
Wohlgensinger: Angenommen, Sie sind auf einen Rollstuhl angewiesen. Dann müssen Sie zum Arbeitsplatz kommen. Vielleicht fehlt ein Behindertenparkplatz für Ihr Auto. Vielleicht ist das Büro zu eng. Vielleicht müssen die Arbeitszeiten angepasst werden, da Sie als Tetraplegiker nicht zehn Stunden vor dem PC sitzen können.
Wo steht heute der behindertenfreundliche Öffentliche Verkehr?
Hanny: Das ist ein Problem, vor allem bei Postautos in ländlichen Gegenden. Ohne Niederflureinstieg braucht man Unterstützung.
Wohlgensinger: Unsere Teamausflüge sind regelmässig Abenteuer. Da sind ja nicht nur die Rollstühle. Da ist auch noch das Motörchen, das den Rollstuhl zieht, und allein 60 bis 70 kg wiegt. Manchmal fahren die barrierefreien Züge nicht nach Fahrplan. Für Menschen mit Sehbehinderung sind Touchscreens ein grosses Hindernis. Für Menschen mit Hörbehinderung gibt es am Bahnhof keine lesbaren Durchsagen. Wir sind also weit entfernt vom Idealzustand. Aber als wir von einer Auslandreise zurückkehrten, waren wir wiederum froh um den Schweizer Standard.
Was sollten die Kirchen tun, um inklusiver zu werden?
Wohlgensinger: Wenn ich an die Kirche in meiner Gemeinde denke, hat es dort drei Parkplätze und keinen Behindertenparkplatz. Den Eingang versperrt eine Treppe. Man müsste also mit dem Rollstuhl durch den Hintereingang.
Hanny: Das allein sagt ja auch schon etwas aus.
Wohlgensinger: Wie überall geht es auch in der Kirche um barrierefreien Zugang. Ein Gottesdienst sollte verständlich sein, eine einfache Sprache und Symbole verwenden.
Was halten Sie von speziell auf Menschen mit Beeinträchtigung ausgelegten Gottesdiensten für alle?
Wohlgensinger: Das ist gut gemeint, ich finde es aber eigentlich ein Armutszeugnis. Wenn ich das Konzept Kirche richtig verstehe, sollte jeder Gottesdienst ein Gottesdienst für alle sein. Welche Institution, wenn nicht die Kirche, macht denn ein Angebot für wirklich alle?
Zehn Jahre Behindertenrechtskonvention
Am 15. Mai 2014 trat in der Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Zum zehnjährigen Jubiläum finden vom 15. Mai bis 15. Juni 2024 nationale Aktionstage statt. Mit dabei ist auch die Evang.-ref. Kirche des Kantons St. Gallen, zum Beispiel mit einem inklusiven Singtag – einer bunten Mischung aus Musik und Bewegung – am Freitag, 7. Juni, von 9.30 bis 16.30 Uhr an der HPV, Splügenstr. 8 in Rorschach. Informationen zu weiteren Aktionen finden Sie unter:
«Ihr seid doch behindert, das könnt ihr gar nicht»