«Ich muss nichts mehr beweisen»
Franz Hohler, was beschäftigt Sie im heutigen «Nach-Lockdown»?
Als ich gestern in die S-Bahn stieg, dachte ich: Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, dass wir diesen Sommer alle maskiert in Zug, Tram und Bus fahren werden, hätte ich ihn wohl mitleidig angelächelt. Mich beschäftigt das viele Unvorhergesehene in dieser Zeit.
Erleben Sie trotzdem glückliche Tage?
Durchaus, wenn ich etwas machen kann, das ich gern tue. Das kann die Arbeit an einem Text sein, eine Wanderung oder der Geburtstag eines Enkelkindes.
Am Bodensee-Kirchentag vom 19. September in Schaffhausen halten Sie eine Lesung mit dem Titel «Zwischen Schöpfung und Weltuntergang». Was liegt dazwischen?
Auf einen Tag umgerechnet etwa 23 Stunden 59 Minuten 30 Sekunden Natur und eine halbe Minute Menschheit.
Wie stellen Sie sich den Weltuntergang vor?
Die Menschheit löscht sich aus, aber die Computer arbeiten weiter, die Lämpchen in den Data Centern blinken fort. Die Welt geht nicht unter, den Viren, Fliegen und Asseln passiert nichts, und sie können wieder von vorn anfangen.
Bewegen wir uns auf dieses Szenario zu?
Seit der Erfindung des Kriegsbeils, ja. Deshalb sollten wir nicht aufhören, Friedensfahnen zu weben.
Was lieben Sie an der Schöpfung?
Ihre Schönheit. Wenn der Wind über eine Bergwiese streicht und die Gräser leise schwanken, als würden sie tanzen. Aber auch die Art, wie sie sich im Gleichgewicht hält, und ihren Erfindungsreichtum. Kürzlich hat man einen winzigen Käfer entdeckt, der die Fähigkeit entwickelt hat, nachdem er von einem Frosch gefressen wird, sich durch dessen Magen und Verdauungssäfte durchzukämpfen und hinten unversehrt wieder hinauszumarschieren.
Worauf könnten Sie an der Schöpfung verzichten?
Früher hätte ich gesagt, auf die Mückenstiche. Aber seit dem Insektensterben muss man auch dafür dankbar sein.
Was ist für Sie wahrscheinlicher: Urknall oder Schöpfergottheit?
Der Urknall. Bloss: Wer hat ihn gezündet?
Nun, in Ihrer Geschichte «Die Göttin» ist es eine Frau, welche die Welt erschafft. Was macht sie anders als ein männlich gedachter Gott?
Eigentlich nichts. Aber es ist ihr nicht wichtig, dass sie dafür auch verehrt wird.
Welche Rolle spielen Gott oder Göttin in Ihrem Leben?
Heute die eines grossen Fragezeichens. Als Kind war ich religiöser als ich es jetzt bin. Ich war sogar Messdiener in der christkatholischen Kirche. Ein starker Eindruck war für mich der Blick hinter den Hochaltar. Während die Vorderseite durch Brokatdecken und Gold und Silber geprägt war, standen auf der Rückseite gelegentlich ein Putzeimer und eine Fegbürste.
Da schwingt eine gewisse Ernüchterung mit. Müssten Kirchen mehr für die Menschen tun?
Das ist fast eine Fangfrage. Sehen Sie, alle könnten immer mehr für die Menschen tun, auch Sie und ich. Ich sehe eigentlich erstaunlich viel kirchliches Engagement für die Schwachen unserer Gesellschaft. Wichtig finde ich, dass die Kirchen offen sind, auch als Räume, in die man sich hineinsetzen und über das Leben nachdenken oder auch beten kann. Man sollte in ihnen eine Gegenwelt spüren, die, von der Christus gesagt hat: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.» Das ist schon ein Stück Anarchie, etwas sehr Radikales jedenfalls, etwas, das unsere Versicherungspolicen, Diplome und Taktfahrpläne relativiert.
Apropos Taktfährpläne: Ihr neues Buch, aus dem Sie auch lesen werden, heisst «fahrplanmässiger Aufenthalt». Das Leitmotiv dieses Buches ist das Reisen.
Das ist eines der Motive, ja.
Was bedeutet Ihnen das Reisen?
Den eigenen Blick woanders hin mitzunehmen, und mit einem anderen Blick wieder in die eigene Welt zurückzukehren.
Halten Sie die Bilder Ihrer Reisen mit der Fotokamera fest?
Ja, ich fotografiere gern, nicht nur auf Reisen, aber ebenso gern behalte ich die Bilder auch im Kopf.
Was war Ihre bisher eindrücklichste Reise?
Also ich bin kein Freund von Hitlisten. Jede Reise hinterlässt Eindrücke. Immer wieder in den Sinn kommt mir eine China-Reise, die ich mit anderen Künstlern zusammen Anfang der Achtzigerjahre gemacht habe. Oder eine Reise durch Guatemala und Mexiko, auf der ich einen Vulkan besucht habe, der gleich alt ist wie ich und innerhalb von wenigen Jahren auf eine Höhe von 400 Metern wuchs. Und die letzte grosse Reise zu der Familie unserer kenianischen Schwiegertochter, über die ich auch im «fahrplanmässigen Aufenthalt» geschrieben habe.
In vielen Texten thematisieren Sie den Umgang mit Geflüchteten. Warum beschäftigt Sie dies?
Es ist eine Herausforderung an unsere Fantasie, uns vorzustellen, wir müssten alles zurücklassen und uns nach einer entbehrungsreichen Flucht beispielsweise in einem Asylzentrum in Addis Abeba anmelden. Gleichzeitig ist das eine Realität für immer mehr Menschen. Alle wohlhabenden Länder müssen sich darauf einstellen, dass sich zunehmend andere Lebensweisen unter ihre eigenen mischen. Wir werden farbiger, ob wir das wollen oder nicht.
Verlieren wir wichtige Themen durch Corona aus den Augen?
Ich denke schon. Gerade die weltweite Migration, die mit Armut und Krieg zu tun hat, ist in den Hintergrund gerückt.
Gibt es eine Zeit nach Corona?
Na ja, «nach Corona» ist eine optimistische Wortwahl. Ich nehme nicht an, dass Corona einfach verschwinden wird. Aber ich denke, dass wir uns dem Klimawandel stellen müssen. Dass dies möglich ist, hat uns gerade Corona gezeigt, aber ebenso, dass dies nicht gratis ist.
Sie stehen seit über fünfzig Jahren auf der Bühne. Wie beeinflusst das Älterwerden Ihre Kunst?
Wenn es einmal klar ist, dass man den Nobelpreis nicht bekommen wird, muss man nichts mehr beweisen. Ich bin gelassener geworden.
Interview: Adriana Di Cesare, kirchenbote-online
«Ich muss nichts mehr beweisen»