«Ich kann anderen meine Liebe geben»
Als Liva Tresch zum ersten Mal mit einer Frau eine Nacht verbrachte – sie bloss dann und wann berührte, mit den Augen streichelte, mehr war da nicht –, fühlte sie sich anderntags schmutzig und verraten. Was für ein Schafseckel der liebe Gott doch sei, habe sie gedacht, jetzt hat auch er mich hintergangen. «Ich war immer schon der Aussatz, das Letzte von allem, unehelich, dumm, und nun auch das noch: schwul.» Das war 1955, Liva Tresch war 22 und so richtig wusste sie nicht, was das ist: schwul. Von anderen hörte sie bloss, die seien ein «gruusiges Saupack», abartig und krank.
Liva Treschs Bild von Sexualität war stark von ihrer Kindheit geprägt, die keine beschwingte war. Geboren in einem Fürsorgeheim in Hergiswil, musste sie schon früh nach Flüelen zu einer Pflegefamilie. Mit sechs Jahren kehrte sie zu ihrer Mutter nach Gurtnellen UR zurück. Dort wurde sie eingeschult, sie musste viel zum Herrgott beten und sollte ordentlich erzogen werden. Nach aussen wurde der Schein gewahrt – Liva trug weisse Röckchen und eine Schleife im Haar –, daheim aber teilte die Mutter, hoffnungslos überfordert, Schläge aus.
Berührungen waren rar
Nachdem sie ihre Mutter einmal fast bewusstlos geschlagen hatte, kehrte Liva Tresch zur Pflegefamilie zurück, den Portmanns. Der Pflegevater war ein Grobian, er soff, machte anderen Frauen den Hof und versprach der kleinen Liva 50 Rappen, wenn sie ihm zwischen die Beine fasste. Liva Tresch bewunderte die Pflegemutter, wie sie ihr Leben meisterte neben diesem Mann, der seine Finger nie bei sich lassen konnte. Und sie mochte es, wenn ihr Frau Portmann mit ihren weichen, warmen Händen das Kleid am Rücken zuknöpfte. Ansonsten waren Berührungen rar. Bei Zärtlichkeiten dachte sie stets an eine Mutter, die sie so nicht hatte, liebevoll und nachsichtig. Und so wurde der Körper einer Frau für Liva Tresch zu ihrer Heimat.
Szene als Ersatzfamilie
Mit 30 Jahren fand Liva Tresch in Zürich eine Stelle in einem Fotogeschäft, sie verbrachte nebenher viel Zeit in Schwulenbars und wurde schon bald zur Szenefotografin. Als eine der wenigen dokumentierte sie das Zürcher Milieu der Schwulen und Lesben in den 1960er- und 1970er-Jahren. Sie fühlte sich wohl dort, sie gehörte dazu, tanzte, feierte Partys. Die Szene war ihre Ersatzfamilie. Mit einer Frau ins Bett mochte Liva Tresch zu jener Zeit nicht. «Jede machte mit jeder rum, das stiess mich ab.» Vielleicht ist das halt so, mutmasst Liva Tresch im Nachhinein: «Wenn du immer ausgegrenzt wirst und dir alle einreden, wie gruusig du bist, verlierst du am Ende den Respekt vor dir selbst.»
Beziehung hielt 20 Jahre
1968 eröffnete Liva Tresch zusammen mit Katrin in Zürich ein Fotogeschäft mit eigenem Labor. Sie hatte die Frau einige Jahre davor kennen und lieben gelernt. Die Beziehung hielt 20 Jahre, dann verliess Katrin sie wegen einer anderen Frau. Sex wollte sie all die Jahre keinen, und Liva akzeptierte das aus Respekt und aus Liebe. Die Jahre nach ihrer Trennung waren schwierig, heute aber haben sich die Frauen versöhnt. Als Katrin wegging, richtete sich Liva Tresch in ihrer Wohnung ein Fotostudio ein und arbeitete weiter – bis sie 1997 im Alter von 64 an einer Thrombose auf dem rechten Auge erkrankte und fast erblindete. Sie musste die Fotografie und damit auch das Geschäft aufgeben, sie verlor aufs Mal ihr Einkommen und den Mut. «Damals war ich noch einmal so richtig tief unten.»
Glücklich mit 88 Jahren
Fast ein ganzes Leben habe sie gebraucht, um zu sich selbst zu finden, sagt Liva Tresch heute. Um zu erkennen: Wer sich verleugnet, zerbricht daran. Vielen Homosexuellen sei das so ergangen, sie hätten sich mehr vor sich selbst versteckt als vor der Gesellschaft. «Ich kann die Welt nicht verändern. Ich kann sie mir bloss so machen, wie ich sie mir wünsche: liebend, verzeihend, respektvoll.» Sie sei, inzwischen 88 Jahre alt, so glücklich wie nie zuvor, trotz all der körperlichen Beschwerden. «Dass ich wegen der Schmerzen kaum noch Schlaf finde, hat auch sein Gutes: So verbringe ich meine Nächte mit Brösmelen, mit Philosophieren über Gott und die Welt.»
Nie den Glauben verloren
Trotz der schlimmen Erlebnisse seit ihrer Kindheit hat Liva Tresch den Glauben nie verloren. «Ich habe mir in dieser verlogenen Welt schon früh meinen eigenen Herrgott erschaffen, einer, der mich nimmt, wie ich bin, und der mich umsorgt.» Angst vor dem Tod hat Liva Tresch keine. Ihren Körper hat sie dem Anatomischen Institut in Zürich vermacht, ihre Seele, davon ist Liva Tresch fest überzeugt, wird weiterleben. «Wie genau, das weiss ich nicht, ich vertraue auf Gott, und das reicht mir.»
Manchmal frage sie sich, was sie in ihrem Leben geleistet und was sie noch zu bieten habe. «Meine Liebe», ist ihre Antwort. «Ich kann dem anderen meine Liebe geben, ich kann ihm offen begegnen, achtsam und mit Respekt.» Liva Tresch hält hohe Stücke auf ein authentisches Leben, eines, das auf Selbstachtung baut und darauf, nur das zu tun, was im Einklang steht mit den eigenen Überzeugungen und Gefühlen. Und so wird Liva Tresch in diesen Tagen an ihrem Haus eine Regenbogenfahne anbringen. «Dass wir überhaupt über eine Ehe für alle abstimmen müssen, ist unfassbar. Aber wichtig.»
Text und Bild: Klaus Petrus, kirchenbote-online
«Ich kann anderen meine Liebe geben»