«Ich bin neugierig auf Menschen»
Ruedi Josuran, Sie haben unzählige Menschen interviewt. Warum interessieren Sie sich für deren Leben?
Ich bin neugierig auf Menschen, ihre Biografien und will wissen, was sie erlebt haben und warum sie dies tun. Diese Neugier hat mich seit jeher angetrieben.
Haben Sie etwas aus den Lebensgeschichten gelernt?
Sehr viel. Ich konnte mich durch sie ständig weiterbilden. Vor allem habe ich gelernt, dass jeder Mensch anders und einzigartig ist, selbst in Krisensituationen. Jeder hat seinen eigenen Stempel, der ihn in seinem Leben prägt. Jemand sagte einmal, jeder Mensch sei ein Fingerabdruck von Gott. Man sollte dies ernst nehmen.
Oftmals haben Ihre Interviewpartner einen Schicksalsschlag erlebt. Ist ein Neuanfang immer möglich?
Ja. Manchmal fehlt einem dazu der Glaube oder die Hoffnung. Ich glaube, dass im Ende ein Neuanfang steckt und gewisse Angelegenheiten beendet werden müssen, bevor ein Neuanfang möglich wird. Um neu zu beginnen, ist es wichtig, dass man jemand zur Seite hat, der einem Hoffnung macht und der mit einem die nächsten Schritte geht. Das Schlimmste ist, wenn man solche Prozesse alleine machen muss.
Sie selber haben Schicksalsschläge wie Burn-out und Krankheiten erlitten. Was hat Ihnen geholfen?
Für mich waren zwei Ebenen wichtig: erstens die Frage: Wo kann ich mir in dieser Situation Unterstützung holen? Wer könnte mich da ein Stück weit begleiten, gerade wenn ich unsicher bin und nicht weiterweiss? Die andere Frage lautet: Welche Schritte kann ich selber machen? Was kann ich dazu beitragen, dass es mir besser geht? Wir brauchen beides: das Wissen, was wir selbst als Nächstes machen und wo wir uns Unterstützung holen können.
Wartet man zu lange, bevor man in der Krise nach Hilfe sucht?
Ja, gerade bei psychischen und seelischen Leiden. Man schämt sich und fühlt sich schuldig für etwas, wofür man sich nicht schämen müsste. Statt sich zu öffnen und zu sagen: «Ich brauche Unterstützung!», koppelt man sich ab und zieht sich zurück. So verliert man viel zu viel Zeit. Es wäre gut, man würde früher in den Prozess eingreifen.
Wie wichtig ist Gott in der Krise?
Gott ist als personales Gegenüber ganz entscheidend. In den dunklen Zeiten ist es wichtig, dass ich mit Gott sprechen und ihm sagen kann: «Hilf mir!», selbst wenn er mir nicht direkt antwortet. Ich kann nicht erwarten, dass es nach meinen Vorstellungen ein Happy End gibt. Manchmal müssen wir Schwieriges aushalten. Da ist Gott ein echtes Gegenüber, vor dem ich alles, was mir passiert, sein darf, ohne mich zu schämen. «Alles wirkliche Leben ist Begegnung», hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber dazu gesagt. Gott ist für mich die Quelle des Lebens, die Begegnung mit Menschen und Gott, und kein religiöses System.
Besteht nicht die Gefahr, dass man in einer Krise versucht, Gott zu missbrauchen?
Ja, es bereitet mir Mühe, wenn man Gott als Automaten oder etwas Mechanisches betrachtet und ihn so missbraucht. Gott ist keine Methode, die man aktivieren kann, und dann funktioniert alles. Und wenn es nicht geschieht, erklärt man: «Du bist selber schuld, denn du hast zu wenig Glauben und Vertrauen.»
Was war für Sie das überraschendste Interview?
Das kann ich nicht an einer Person festmachen, sondern an Momenten, die weder vorgesehen noch geplant waren oder im Drehbuch standen. Sie geschehen unerwartet und überraschend. Ich suche solche Augenblicke, in denen Menschen aus ihrer Rolle heraustreten, aus ihrer Rhetorik, ihren Slogans und ihren vorgefertigten Sätzen, und sich auf ein unsicheres Terrain begeben. Und dann geschieht plötzlich etwas Echtes.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online
«Ich bin neugierig auf Menschen»