Hauptsache gesund?
Unser Sprachschatz hält einen ansehnlichen Fundus an Durchhalteparolen und Mutmach-Sätzen bereit wie «Kopf hoch» oder «Wird schon wieder». Bei «Hauptsache gesund» wird es mir aber immer mulmig. Aus zwei Gründen. Erstens ist es ein Satz, der vor den Kopf stösst und weh tut. Man denke an unwiderruflich Kranke, wie den unvergessenen Astrophysiker Stephen Hawking (1942 bis 2018).
Wer so oder ähnlich krank ist, wie Hawking es war, muss etwas anderes finden als Gesundheit, was dem Leben Sinn gibt: Eine gute Verbindung zu sich und zu seiner Vision vom Leben. Vielleicht auch zur Familie und zu Freunden. Warum nicht auch zu Gott? Oder wie immer man «Great Spirit» für sich persönlich bezeichnet.
Zweitens ist die Durchhalteparole vor allem Wasser auf die Mühle von Pillen-Shareholdern. Gesundheit ist bei uns eine Ersatzreligion geworden ist, wie einst der Tanz um das goldene Kalb. Dagegen wehre ich mich. Gehören nicht äussere und innere Widerstände wie Krankheiten und Schmerzen ein Stück weit zum Leben? Heute werden sie oft leichtfertig weggespritzt, «weggepillt».
Ergebnisse einer Studie
Hauptsache gesund - darum geht es auch in einer Untersuchung der Universität Marburg aus dem Jahr 2020. Mehr als 30 Jahre lang wurden dazu 80’000 Menschen befragt. Der Soziologieprofessor Martin Schröder hat die Daten ausgewertet und sie unter dem Titel "Wann sind wir wirklich zufrieden?“ publiziert. Auf Platz eins landete Gesundheit. Sie hat zwar den grössten Anteil am Zufriedensein, aber nicht den einzigen. Zufriedenheit braucht anderes: Zum Beispiel genügend Schlaf und gute soziale Kontakte. Insbesondere Freunde, die man auch wirklich sieht, etwa einmal im Monat. Mit jedem Freund wächst die Zufriedenheit. Bis zum fünften, um genau zu sein. Dann steigt sie nicht weiter, fand der Soziologe heraus.
Weitere Faktoren sind gutes Ansehen und Geld. Aber nur bis zu einem Monatseinkommen von etwa 2'000 Euro pro Person. Wer weniger hat, spürt das als Verlust an Zufriedenheit. Wer mehr hat, wird dadurch nicht zufriedener. Hauptsache gesund - stimmt auch nach dieser Studie nicht.
Ruppiger Jesus
Sogar der Mann von Nazareth scheint nicht grossen Wert auf Gesundheit gelegt zu haben, wage ich jedenfalls zu behaupten. Wie sonst hätte er die Anweisung geben können: «Wenn dich dein Auge zum Bösen verführen will, stich es aus und wirf es weg. Besser du kommst halb blind in den Himmel, als zwei Augen zu haben und ins ewige Höllenfeuer geworfen zu werden» (Matthäus 18,9)?
Jesus war ein Meister in der Kunst, Zuhörer mit Witz und Humor zum Lachen zu bringen und gleichzeitig zum Denken über Leben und Tod anzuregen. Er sagt: Lieber geschädigt und mit Schmerzen ins ewige Leben eingehen, als unversehrt und gesund verloren gehen. Das ist ruppig und kein zimperlicher Umgang mit dem eigenen Körper. Uns Stressgeplagten hätte Jesus wohl Ruhe verschrieben, um etwas für die Gesundheit zu tun.
Ruhe rezeptfrei
Und tatsächlich, kluge Ärztinnen verschreiben gehetzten Menschen Ruhe zur Prävention wie Therapie von chronischem Leiden. Damit beherzigen sie den weisen Rat des dänischen Religionsphilosophen Sören Kierkegaard (1813 bis 1855): «Schaffe Schweigen - als Voraussetzung, dass überhaupt Heilung geschehen kann».
Gleiches berichtet der Jesuit, Zen-Meister und Autor Niklaus Brantschen aus eigener Erfahrung, Ruhe heile: «In der Ruhe können die selbstregulations- und Selbstheilungskräfte ihre lebenserhaltende Wirkung entfalten. Wenn wir achtsam mit uns umgehen, können wir auch ohne Arzt zu dieser Einsicht kommen, dass Ruhe gesund hält, so wie eine gewisse Art von Stress krank macht. Also denn: Stille statt Pille!».
Werden Sie nun immer noch sagen, «Hauptsache Gesundheit»?
Hauptsache gesund?