Gespräche hinter Gittern
Drei Fragen haben Birgit Schmidhalter-Malzahn vor dreissig Jahren dazu bewogen, in die Gefängnisseelsorge einzusteigen: Wie ist es möglich, dass es so viel Kriminalität und Bösartigkeit in der Welt gibt? Was sind das für Leute, die Verbrechen begehen? Und: Wie begegnet man ihnen?
In all den Jahren hat Schmidhalter viele Antworten auf ihre Fragen gefunden. Und viele Fragen auf jede Antwort. Auch wenn Gefängnisse oft triste und von Kargheit geprägte Orte sind, wird Schmidhalter, wenn sie Ende März in den Ruhestand geht, einen Reichtum an Erinnerungen mit sich nehmen. Und die Gewissheit: Nicht jeder Mensch, der schlechte Dinge tut, ist auch ein schlechter Mensch.
Im Gefängnis willkommen geheissen
Birgit Schmidhalter erinnert sich noch gut an ihren ersten Arbeitstag im Gefängnis. Sie war noch in der Ausbildung und durfte ihrem Praktikumsleiter ins Massnahmenzentrum St. Johannsen in Bern begleiten. Ein mulmiges Gefühl im Bauch, zwei kleine Kinder zu Hause, ganz geheuer war Schmidhalter die neue Aufgabe im ersten Moment nicht. Aber alle Vorbehalte seien in dem Augenblick von ihr gefallen, als sie den ersten Insassen begegnete. «Ich dachte: Diese Menschen sehen ja gar nicht wie Verbrecher aus!» Schmidhalter lacht versöhnlich. «Die Menschen im Gefängnis hiessen mich vom ersten Tag an willkommen, sowohl die Insassen als auch das Personal.» Das mulmige Gefühl kehrte nie wieder zurück.
Viermal so hoch wie im europäischen Vergleich
Eine der grössten Herausforderungen in der Gefängnisarbeit, sagt Schmidhalter, seien die vielen verschiedenen Nationalitäten der Insassen. Sprache, Religiosität und Wertesysteme unterscheiden sich je nach kulturellem Hintergrund stark. Die Schweiz ist zudem ein Sonderfall, was das angeht: Über 70 Prozent der in der Schweiz inhaftierten Menschen haben eine fremde Staatsangehörigkeit. Das sagt eine Studie des Europarats von 2019. Im europäischen Vergleich ist diese Zahl mehr als viermal so hoch.
Gründe dafür gibt es viele: die hohe Kaufkraft der Schweiz etwa und der damit verbundene florierende Drogenhandel. Vor allem aber bleiben die meisten Insassen ohne Schweizer Pass bis zu ihrem Urteil in der Untersuchungshaft. Die Mehrheit der Schweizer Bürger kommt dagegen auf Bewährung frei. «Fast alle Delikte, die mir begegnet sind, sind armutsbedingt.» Schmidhalter erzählt von Rumänen, die in die reiche Schweiz kamen, um der extremen Armut in ihrer Heimat zu entkommen – nur um hier in der Kriminalität und am Ende im Gefängnis zu landen. «Diese Gefangenen sind sehr oft Familienväter», sagt sie. «Alles, was sie wollten, war eine Perspektive für ihre Familien.»
Ohnmachtsgefühle
Birgit Schmidhalter ist eine kleine Person mit grosser Ausstrahlung. Nach 30 Jahren leuchten ihre Augen immer noch, wenn sie von manchen Begegnungen erzählt, und ihr Mund wirkt bereit für das nächste Lachen. Wie verliert man bei so viel Trostlosigkeit nicht die Hoffnung?
«Ich hatte starke Ohnmachtsgefühle, als ich neu anfing», gibt Schmidhalter zu. «Ich dachte: Man muss doch etwas für diese Menschen tun können! Aber ich habe gelernt, zu akzeptieren, dass wir in einer Welt leben, die nicht ideal ist. Ich tue, was ich im Augenblick kann, und hoffe, dass sich die Welt mit der Zeit verändert.»
Von der «Sister» zur «Mama»
Birgit Schmidhalters Zuständigkeitsbereich waren die Gefängnisse sowohl für den Kurzstrafvollzug als auch für die Untersuchungshaft. Letztere unterscheiden sich von regulären Haftbedingungen vor allem darin, dass die Gefangenen nicht telefonieren dürfen. Besuche sind möglich, aber für ausländische Familien zu kostspielig. Persönliche Gespräche sind daher eine willkommene Abwechslung im Gefängnisalltag. Dass sie einen Einfluss hat, zeigt sich schon am Umgang der Gefangenen mit ihr. Die Insassen schätzten Schmidhalter als Frau und nicht autoritäre Person, die in ihren Gefängnisalltag trat. In jüngeren Jahren nannten sie Schmidhalter «Sister». Im Laufe der Jahre sei sie immer mehr zur «Mama» geworden.
Nicht die Fassung verlieren
Die Gespräche drehen sich um alles Mögliche. Manche erzählen Schmidhalter von ihren Familien, immer wieder drehe es sich darum, wie es überhaupt so weit kommen konnte. «Manchmal sitzen Männer vor mir und sagen stolz: ‹Wissen Sie, ich habe vor nichts Angst!› Denen antworte ich dann: ‹Ich wünschte, Sie hätten mehr Angst, dann würden Sie vielleicht auch kein Delikt begehen!›»
Die grösste Herausforderung sei, wenn Menschen sich antisemitisch äussern oder über wilde Verschwörungstheorien reden wollen. Schmidhalter hat gelernt, nicht die Fassung zu verlieren, sich nicht auf Diskussionen einzulassen und deutlich zu sagen: «Alle Menschen haben ein Daseinsrecht, alle sind in der Welt von Gott gewollt.»
Viele Diskussionen über Religion und Glaube
Oft würden die Gespräche auch philosophisch. Da geht es dann um so Fragen wie: Gibt es überhaupt noch Hoffnung für die Welt? Schmidhalter diskutiert viel mit den Menschen. Religion und Glaube spielen bei den Insassen eine besondere Rolle. Gott ist für viele Menschen eine grosse Hoffnung. In jeder Religion will Gott Gutes für die Menschen. «Gott ist eine Art Verbundenheit mit der Aussenwelt», sagt Schmidhalter. «Es ist die Hoffnung, dass es da noch jemand Höheres gibt, der ihnen aus dem Schlamassel helfen kann.»
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