Generation Action-Opa und Power-Grosi
Vor zwei Jahren hat der Jurist einer Versicherung Akten gesichtet, Prozesse vorbereitet oder vor Gericht plädiert. Heute krabbelt er laut wiehernd durchs Wohnzimmer oder lässt sich vor Schmerzen stöhnend den Arm verbinden. Den Kleinen gefällt’s, sie klatschen begeistert in die Hände, wenn der Opa mit ihnen spielt. Am Freitag haben er und seine Frau Enkeltag, die Tochter bringt am Morgen ihre beiden Kinder vorbei. Grosseltern zu sein, sei etwas Grossartiges – aber anstrengend, meint er. Sie seien froh, wenn der Schwiegersohn die Kleinen am Abend wieder abhole.
Ein neuer Lebensabschnitt
So wie den beiden geht es vielen Grosseltern in der Schweiz. 40 Prozent betreuen ihre Enkel mindestens einmal pro Woche, auf dem Land etwas häufiger als in der Stadt. Für viele ist die Geburt ihrer Enkelkinder eine Zäsur in ihrem Leben. Bald einmal stellt sich die Frage: Sollen sie diese betreuen? Viele Grosseltern sind zunächst unsicher, was auf sie zukommt.
Eigentlich trauen sie sich das zu, schliesslich haben sie schon Kinder grossgezogen. Aber sie fragen sich, ob sie das noch können und ob man heute nicht alles anders macht. Manche frischgebackenen Grosseltern suchen Unterstützung in Grosselternkursen, wie sie das Rote Kreuz oder die Hirslanden-Gruppe anbieten.
Wichtig sei, raten die Experten, dass Grosseltern akzeptieren, dass ihre Kinder nun die Eltern sind und die Hauptverantwortung tragen. Das bedeute manchmal «schweigen, schlucken, schenken», stellt ein 63-Jähriger ernüchtert fest. Aber es sei auch entlastend, wenn man nach dem Betreuungstag den nörgelnden Balg wieder in die Arme der Eltern drücken könne.
Grosseltern leisten 160 Millionen Stunden im Jahr
Da in der Schweiz nach wie vor Krippenplätze fehlen, spielen Grosseltern bei der Kinderbetreuung eine wichtige Rolle. Gemäss Bundesamt für Statistik betreuen sie ihre Enkelkinder während 160 Millionen Stunden pro Jahr. Umgerechnet in Franken und Rappen entspricht diese Care-Arbeit einer Leistung von rund 8 Milliarden Franken.
Für Rosmarie Brunner hat die Betreuung der Enkelkinder deshalb auch eine soziale und wirtschaftliche Bedeutung. Brunner ist Vorstandspräsidentin der «Grossmütter-Revolution». «Kinderbetreuung ist keine Privatsache, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe», sagt die 66-jährige Theologin gegenüber dem «Tagesanzeiger». Sie stört sich daran, dass die Arbeit der Grosseltern ins Private abgeschoben und nur auf emotionaler Ebene diskutiert wird. Deshalb setzt sich die «Grossmütter-Revolution» für eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung der Care-Arbeit ein.
Die grosse Freiheit winkt
Im Durchschnitt werden Frauen und Männer mit 55 Jahren zum ersten Mal Grosseltern. Einerseits stehen sie dann noch im Berufsleben und brauchen andererseits Zeit für sich und ihre Partnerschaft. Mit einem Auge schielt man schon auf die grosse Freiheit im Ruhestand mit all den geplanten Reisen. Dann kündigt sich Nachwuchs an. Und die Tochter fragt ganz beiläufig beim Abwaschen, ob man nicht den einen oder anderen Tag in der Woche übernehmen könnte. Darf man da Nein sagen und seine Kinder vor den Kopf stossen?
Für Brunner, die selbst zwei Kinder betreut, ist es nicht selbstverständlich, dass Grosseltern auf ihre Enkel aufpassen. «Das ist kein Muss», sagt sie. Wichtig sei, im Vorfeld abzuklären, welche Bedürfnisse und Vorstellungen beide Seiten haben. Es brauche klärende Gespräche über die Erwartungen und darüber, was möglich und sinnvoll ist.
Grosseltern sind oft entspannter
Grosseltern sind neben den Eltern wichtige Bezugspersonen für die Kinder. Sie geben ihnen das Gefühl, dass es neben Mama und Papa noch jemanden gibt, der Zeit für sie hat und sie liebt. Da man heute im Durchschnitt älter wird, entsteht eine langfristige und starke Bindung zwischen den Generationen. Die Senioren von heute sind mobiler und aktiver als frühere Generationen und können noch viel mit ihren Enkelkindern unternehmen. Die Kleinen erhalten ungeteilte Aufmerksamkeit, und Grosseltern reagieren oft entspannter als die Eltern.
In einer hektischen Gesellschaft liegt der Wert der Grosseltern immer stärker darin, dass sie jenseits von Schul- und Berufsstress stehen, stellt der Alters- und Generationenforscher François Höpflinger fest. Dadurch können sie Kindern und Jugendlichen etwas bieten, was oft zu kurz kommt: Zeit, Gelassenheit und soziale Beziehungen jenseits von Zeitdruck.
«Das Schöne war, dass wir nachmittags in Omelis Bett liegen und fernsehen konnten», erinnert sich der heute 30-jährige Timon an die Nachmittage bei seiner Grossmutter. «Sie hatte einen tollen, grossen Fernseher.» Und seine Schwester weiss noch, wie die Grossmutter gute Tipps gegen Pickel gab und ihr bei der Vorbereitung auf eine Wirtschaftsprüfung half.
Enkelkinder halten jung
Der Austausch mit den Enkelkindern hält viele Grosseltern jung. «Durch die Betreuung meiner Enkel bin ich sicher jünger geblieben», blickt die heute 86-jährige Doris Lüscher zurück. In ihrem Alltag sei sie eher älteren Menschen begegnet. Durch ihre Enkelkinder erfuhr sie einen Ausgleich. Sie erhielt Anregungen und neue Impulse. «Ohne meine Enkel hätte ich schon früher aufgehört, Auto zu fahren.»
Ausserdem, so Lüscher, in den Zeitungen lese man immer, wie schlecht die Jugend sei. «Bei meinen Enkeln, ihren Freunden und Kollegen habe ich gesehen, dass das nicht stimmt. Es gibt viele nette und tolle Leute unter den Jugendlichen. Es wird nur viel zu wenig darüber gesprochen.»
Weitergabe von Glauben und Werten
Grosseltern bauen Brücken zwischen dem Heute und dem Gestern. Sie sind das Gedächtnis der Familie. Sie erzählen von einer Welt, in der es noch keine Handys und kein Internet gab. Und erklären ausführlich, woran man die Blätter einer Buche oder eine Eiche erkennt und wie ein Kuckuck ruft – ohne vorher zu googeln. Und Grosseltern kennen unzählige Lieder, Märchen und Gedichte, die die Kleinen immer wieder hören wollen.
Gerade bei der Weitergabe von Religion, Glauben und Werten spielen die Grosseltern eine wichtige Rolle. Bei ihnen steht noch der Adventskranz auf dem Stubentisch, der zu Hause fehlt. Und Oma kennt noch das passende Lied dazu. Für den Theologen Fulbert Steffensky liegt hier eine besondere Aufgabe der Grosseltern: «Wir schulden unseren Kindern die Weitergabe unseres Glaubens – das ist das andere Brot, das sie brauchen und ohne das sie hungern müssen.»
Wir schulden unseren Kindern die biblischen Geschichten von Freiheit und Lebensrettung. Die Moral komme dann von selbst. Die Sehnsucht nach Freiheit nährt sich aus den Geschichten der Befreiung. «Der Mensch ist ein Wesen, das die Freiheitsgeschichten seiner Grosseltern kennt und sie an seine Enkel weitergibt. Die Saat der Befreiungsgeschichten ist auch das Brot von morgen.»
Doris Lüscher, die ihre Enkelkinder über zehn Jahre lang betreut hat, blickt gerne auf diese Zeit zurück. Sie verstehe die Leute nicht, sagt sie, die nach der Pensionierung sagen, sie wollten jetzt für sich sein. «Die Erlebnisse mit den Enkelkindern kann man nicht nachholen. Lüscher rät allen, offen zu sein. «Es müssen ja nicht die eigenen Enkel sein, man kann sich auch um andere Kinder kümmern.»
Generation Action-Opa und Power-Grosi