Gedenktag als Zeichen des Friedens
Der 1. April 1944 beginnt als gewöhnlicher Samstag in Schaffhausen. Um 10.50 Uhr sind die Kinder in der Schule, der Wochenmarkt auf dem Herrenacker wird rege besucht, und in den Gassen der Altstadt flanieren die Leute bei schönen Frühlingswetter. 40 Sekunden später liegt die Stadt in Trümmern. 40 Leute sind tot, 140 verletzt, 500 obdachlos. Die 400 Brand- und Sprengbomben der US-Luftwaffe hinterlassen Tod und Verwüstung in der Munotstadt.
Kirchengeläut zum Gedenken
Am 1. April 2019 läuten um punkt 10.55 Uhr die Kirchenglocken in der Stadt Schaffhausen. Zur selben Zeit versammeln sich die Kantons- und Stadtregierung, Bundesrätin Karin Keller-Sutter und der amerikanische Boschafter Edward McMullen vor dem Waldfriedhof. Weitere Gäste folgen den Politikern, darunter zwanzig Betroffene, die am 1. April 1944 einen Angehörigen verloren haben. Bei der Gemeinschaftsgrabstätte legen die Bundesrätin, der US-Botschafter, Stadtpräsident Peter Neukomm und Kulturreferent Raphael Rohner gemeinsam die Blumenkränze nieder. «Wir verneigen uns mit Respekt vor den Opfern und den schwer geprüften Angehörigen, verbunden mit dem Wunsch, es möge in Zukunft Frieden auf dieser Welt einkehren», sagt Stadtrat Rohner in seiner Ansprache.
Zerstörte Steigkirche
Die offizielle Gedenkfeier an die tragische Bombardierung der Stadt Schaffhausen findet im Anschluss an den Besuch auf dem Waldfriedhof in der Steigkirche statt, die vor 75 Jahren durch den Fliegerangriff zerstört wurde.
Aufzeichnungen zeigen, dass sich der Organist zum Zeitpunkt des Angriffs im Treppenhaus befand. Er überlebte das Inferno, 40 andere Menschen hatten weniger Glück. Sie starben durch die Einschläge beim Bahnhof, am Rathausbogen, in der Vordergasse, beim Thiergarten und bei der Beckenstube.
Ein Zeitzeuge berichtet
Die Rettungskräfte brachten die Todesopfer ins Kantonsspital. Der Zeitzeuge Hans Bader erzählte 2014 in einem Filmbeitrag: «Die Särge standen alle nebeneinander im Kantonsspital. An jedem Sarg hing ein Papiersack mit den persönlichen Habseligkeiten der Opfer. In einem der Säcke erkannte ich die Brosche meiner Mutter. Daraufhin öffnete ein Arzt den Sargdeckel, und ich erblickte das Gesicht meiner toten Mutter, die aussah, als ob sie schliefe.»
Die Pfarrer Martin Baumgartner und Urs Elsener erinnern am Gedenktag an die vielen schrecklichen Einzelschicksale. «Erinnern wir uns nicht nur an die kalten Zahlen der Opfer, sondern an die Gesichter der Menschen», sagt Martin Baumgartner bei der Kranzniederlegung, bevor er mit seinem katholischen Kollegen ein Gebet spricht.
«Ein tragischer Irrtum»
Der Historiker und Buchautor Matthias Wipf hat für sein neustes Buch «Die Bombardierung von Schaffhausen – ein tragischer Irrtum» mit über 160 Zeitzeugen gesprochen. Viele Augenzeugen berichten, dass sie die Flieger zwar gesehen, dadurch aber nicht alarmiert gewesen seien. «80 Prozent des Kantons Schaffhausen grenzte an Deutschland. Die Leute hatten sich an Fliegeralarme gewöhnt, sie sahen sie als Schauspiel an. Statt in die Luftschutzkeller zu gehen, versuchten sie, die Flugzeugtypen zu identifizieren. Die Gefahr war nicht mehr präsent», erklärt Wipf.
Die Piloten in den 25 Kampffliegern seien zwischen 18 und 22 Jahre alt gewesen und hätten die Orientierung verloren. «Sie waren in Northfolk bei sehr schlechter Witterung mit dem Ziel gestartet, eine kriegswichtige Produktionsfirma in Ludwigshafen am Rhein zu bombardieren». Über Schaffhausen sei das Wetter besser gewesen. «Da entschieden sie, auf Sicht zu bombardieren, man nennt dies auch ‘Gelegenheitsziel’. Sie mussten ihre tödliche Last dringend abwerfen, um es zurück auf ihre Basen zu schaffen.»
Beten für die Angehörigen
Für die Buchrecherche hat Wipf mit einem dieser Piloten gesprochen. George Insley ist heute 96-jährig und lebt in Oregon Texas. «Er sagt, dass es ihm leid tue, es sei ein tragischer Irrtum gewesen. Er betet bis heute für die Angehörigen der Opfer», so Wipf.
Den Verdacht, dass die Bomben absichtlich auf Schaffhausen fielen, weist der Buchautor vehement zurück. «Diesen Verdacht zu schüren war Nazipropaganda. Ich habe alle relevanten Dokumente, wie die Logbücher der Piloten und die Rechenschaftsberichte erforscht. Es existiert kein einziges Indiz, das auf eine absichtliche Bombardierung hinweisen würde.» Die USA hätten sehr genaue Pläne der Schweiz gehabt. «Wenn sie die SIG, die Georg Fischer oder die IWC, die damals Zünder nach Deutschland lieferte, hätten treffen wollen, hätten sie sehr genau getroffen.»
«I am sorry»
US-Botschafter Ed McMullen erinnert daran, dass die USA für den tragischen Unfall sofort die Verantwortung übernommen habe. «Die Bombardierung Schaffhausens gehört zu den gravierendsten Fehlern, die den USA im zweiten Weltkrieg unterlaufen sind. I am sorry», sagt er in der Steigkirche. Er betont, dass auch der Präsident den Vorfall sehr bedaure und führt aus, dass sein Land zur Wiedergutmachung am Ende eine Geldsumme im heutigen Wert von 250 Millionen Dollar geleistet habe. «Natürlich, das ersetzt kein Menschenleben», so der Botschafter, «darum bin ich heute hier, um der Opfer zu gedenken.»
Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat durch ihren Vater eine Verbindung zu Schaffhausen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs leistete dieser hier seinen Aktivdienst. Es gehe an diesem Tag darum, der Opfer und ihren Angehörigen zu gedenken, man müsse sich jedoch bewusst sein, wo die Schweiz heute stehe, sagt sie bei der Gedenkfeier. «Wir haben auch heute Aufgaben, sei es die Armee, die Erneuerung der Luftwaffe oder im Polizeibereich, um Terroranschläge und Kriminalität zu verhindern.»
«Alles tun, um Krieg zu verhindern»
Dies bekräftigt Stadtpräsident Peter Neukomm: «Dieser Gedenktag ist ein Mahnmal für uns alle, alles zu tun, um Krieg zu verhindern. Es gibt heute an zu vielen Orten auf der Welt kriegerische Auseinandersetzungen, in denen Unschuldige sterben. In Europa haben wir wieder Tendenzen zu Fremdenhass, Antisemitismus und Nationalismus.» Der Gedenktag sei deshalb vor allem eines: «Ein Zeichen für den Frieden».
Adriana Schneider, kirchenbote-online, 2. April 2019
Gedenktag als Zeichen des Friedens