News von der Glarner reformierten Landeskirche

«Für viele ist Fussball Religion»

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25.06.2018
In der Stadtkirche Zug befragte der Fussball begeisterte Pfarrer Josef Hochstrasser die Schweizer Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg. Ein Gespräch über Werte, Transfersummen und Glaube.

Liebe Martina, du hast eine fantastische Fussball-Karriere gemacht, du warst Vize-Weltmeisterin und vierfache Europameisterin. Welche Momente sind dir geblieben?
Klar denkt man an die wunderbaren und tragischen Erlebnisse des Sieges und der Niederlage. Wenn ich jedoch zurückschaue, sind es die Begegnungen und Freundschaften, an die ich mich besonders erinnere.

Traurige Erlebnisse auf dem Fussballplatz?
Ja, jede Niederlage tut weh. Das ist wie im wirklichen Leben. Niederlagen und Verletzungen prägen die Persönlichkeit und das Leben. Ohne die Erlebnisse, die ich im Fussball geniessen konnte oder erleiden musste, wäre ich heute eine andere Person.

Du machst uns Schweizer traurig: Ab September verlässt du die Schweizer Nationalmannschaft und übernimmst die deutsche. Was ist passiert?
Ich bin seit mehr als sechs Jahren Schweizer Nationaltrainerin, dafür bin ich dankbar. Der Deutsche Fussballbund ist an mich herangetreten, da sie eine Nachfolge für ihre Nationalmannschaft suchten. Ich habe mir den Entscheid nicht leichtgemacht, nach unzähligen Diskussionen und schlaflosen Nächten habe ich zugesagt.

Schlaflose Nächte?
Ja, ich fühle mich in der Schweiz sehr wohl und habe ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Spielerinnen. Da werden noch einige Tränen vor dem Abschied fliessen.

Der Sprung nach Deutschland ist ein Aufstieg.
Aufstieg? Manche sagen so, andere so. In Deutschland hat der Fussball eine andere Bedeutung. Der Druck ist grösser, die Verantwortung ist grösser, die öffentliche Wahrnehmung ist grösser. In der Schweiz dürfen wir gewinnen. In Deutschland muss man gewinnen.

Ich habe gesehen, du und deine Spielerinnen singen vor dem Spiel die Schweizer Nationalhymne.
Wir wollen damit das Zugehörigkeitsgefühl ausdrücken. Es ist bedeutsam, dass man für das Land einsteht, das man vertritt. Dazu gehört auch das Singen der Hymne.

Das sehen manche männlichen Kollegen anders.
Vielleicht ist das Machogehabe. Oder der Fussballer singt generell nicht gerne. Einige Spieler mit Migrationshintergrund erklären, sie fühlten sich unwohl, weil ihre Eltern aus einem anderen Land stammen. Da bin ich anderer Meinung: Wenn ich für eine Nation auflaufe und sie vertrete, so bin ich Teil dieses Landes, selbst wenn die Familie dies nicht schätzt. Frauen sind da offener. Ich kenne keine Fussballerin, die bei der Nationalhymne nicht mitsingt.

Bist du konservativ?
Sicherlich, gerade was das Thema Familie betrifft. Werte zu haben und zu vertreten ist mir wichtig. Ich gebe diese Werte auch an meine Spielerinnen weiter.

Welche?
Ich lege Wert darauf, wie wir auftreten und dass wir respektvoll mit den Menschen umgehen.

Redest du mit deinen Spielerinnen nicht nur über Aufstellung und Taktik?
Nein. Das eine schliesst das andere nicht aus. Wir sprechen darüber, welches Bild wir in der Öffentlichkeit abgeben und was ich erwarte. Etwa, dass die Spielerinnen die Hotelzimmer so aufräumen, dass die Putzfrau nicht über alles stolpert. Oder dass sie beim Essen ihre Gläser austrinken oder sich weniger einschenken. Solche Kleinigkeiten sind mir wichtig, denn sie prägen den Umgang.

Hast du schon als Kind Fussball gespielt?
Schon mit fünf Jahren bin ich über den Zaun gesprungen und habe angefangen.

Mit den Jungs?
Ja, ich war das einzige Mädchen und spielte mit meinen Brüdern.

Bist du eine Strassenfussballerin?
Absolut. Ich habe gegen jede Dose und jeden Stein getreten und meine Schuhe kaputtgemacht. Ich habe überall gespielt, vor der Garage, auf der Strasse, Wiese und dem Aschenplatz. Erst mit 15 Jahren bin ich in einen Verein eingetreten. Ich habe mir das Fussballspielen selbst beigebracht, deshalb bin ich total rechtslastig und kann nicht beidseitig spielen. Ich habe es trotzdem weit gebracht – so finde ich wenigstens.

Als deutsche Nationaltrainerin wirst du die Strophe «Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand» singen. Der Text der Nationalhymne handelt nicht von Frauen.
Ja, auch im Fussball wimmelt es von männlichen Begriffen. Deshalb spreche ich bewusst etwa von «Torhüterin» und achte in Interviews darauf, dass Frauen mit weiblichen Bezeichnungen versehen werden.

Feministinnen würden darauf pochen, den Text der Nationalhymne zu ändern.
Mit Recht.

Spielen Frauen anders als Männer?
Vieles ist gleich. Ich denke aber, Frauen spielen fairer und weniger theatralisch. Das Machogehabe und das ständige Reklamieren über die Schiedsrichter finden im Frauenfussball nicht statt.

Wird der Frauenfussball in der Gesellschaft ernst genommen?
Von einem Teil der Gesellschaft sicher. Ein Grossteil der männlichen Fussballwelt belächelt uns immer noch. Weibliche Fussball-Kommentatorinnen erleben in den sozialen Medien ein Bashing ohne Ende, da fallen nur negative Kommentare. Heute sind im digitalen Netz sämtliche Grenzen des Respekts gefallen.

Schade, denn es ist sehr angenehm, den Frauen beim Fussballspielen zuzuschauen.
Viele, gerade Familien, besuchen inzwischen lieber die Spiele der Frauenteams. Denn bei den Männern kommt es immer wieder zu Ausschreitungen. Gewalt hat im Fussball nichts verloren. Sie macht den Sport kaputt.

Für wen spielen die Fussballerinnen, für die Nation, den Club oder für sich?
Fussball spielt man aus Freude und Leidenschaft. Man will mit dem Team gewinnen. Bei den Männern hat sich das etwas verändert. Jeder spielt für die eigene Marke, sein Image und Konto und seine Facebook-Einträge.

Frauen verdienen im Fussball deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen. War es die Ursünde dieses Sports, als der erste Spieler bezahlt wurde? Verdirbt Geld den Sport?
Nein.

Auch nicht, wenn Transfers von 220 Millionen wie bei Neymar bezahlt werden?
Das ist völlig weltfremd. Die Profis bewegen sich in einer Parallelwelt. In einem Interview erklärte Rio Ferdinand, der bei Manchester United spielte, wie er nach dem Tod seiner Frau in der Wirklichkeit landete. Er wusste nicht, wo seine Kinder in die Schule und den Kindergarten gehen und welchen Arzt sie haben. Er hatte keine Ahnung, wie die normale Welt funktioniert. Über Jahrzehnte hatten ihm der Club und die Berater alles abgenommen. Er fuhr ins Training und man sagte ihm, was er zu tun habe. Er musste nie eigene Entscheidungen treffen. Das passiert vielen Spitzensportlern. Viele haben nach der Karriere Mühe, kommen mit dem Leben nicht klar, scheitern und werden Alkoholiker.

Ich besuchte die WM in Brasilien und fuhr durch die Favelas, die neben den prächtigen Stadien lagen. Macht es Sinn, in diesen Ländern solche Wettbewerbe auszurichten?
Es ist richtig, dass Grossereignisse wie die WM oder die Olympischen Spiele nicht nachhaltig sind. Selbst wenn die Infrastruktur punktuell verbessert wird, haben die Ärmsten nichts davon. Ehrlicherweise sollte man zugeben, dass die Gelder auch ohne die Spiele nie in den Favelas angekommen wären.
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, soll man die Wettbewerbe in Ländern austragen, in denen die sozialen und politischen Verhältnisse schwierig sind? Oder vergibt man damit die Chance, dass sich die Staaten öffnen und die Probleme öffentlich diskutiert werden? Dabei sollte man auch bedenken, dass die Menschen in diesen Nationen stolz sind, dass ihr Land ein solches Turnier austragen darf.

Die Fifa betont, Fussball sei völkerverbindend. Stimmt dieses Credo?
Fussball hat eine unglaubliche Energie und Kraft, die Menschen zusammenbringt. Auf der anderen Seite bietet der Fussball auch eine Plattform für Gewalt und Ausschreitungen.

Du kennst das geflügelte Wort «Schalke ist kein Verein, Schalke ist eine Religion». Du lachst, warum?
Ja, für viele Menschen ist der Fussball und der Verein ihre Religion. Sie gehen dorthin, treffen Gleichgesinnte, werden geschätzt und durchleben gemeinsam Höhen und Tiefen. Das ist ihr Lebensinhalt, der ihnen im Alltag fehlt. Einige opfern ihr ganzes Geld, um der Mannschaft hinter her zu reisen. Ich kann das nachvollziehen.

Gibt es Parallelen zwischen Religion und Fussball?
Ja, man taucht in die Gemeinschaft ein, singt, fiebert mit, feiert, freut sich und trauert. Ich verstehe es, dass Menschen in den Stadien etwas suchen und finden, das sie ansonsten in ihrem Leben nicht hätten.

Spielt Gott für dich eine Rolle?
Ja, er hat mich begleitet in meinen stillen und schwierigen Momenten und den Krisen. Ich fragte mich, wo und in was finde ich Hilfe und was bringt mich zurück auf den Weg. Es gibt Momente, in denen man Halt braucht. Ich glaube an die Gerechtigkeit, daran, dass wenn Menschen Gutes tun, dies auf sie zurückfällt. Das ist Teil meines Glaubens, nach dem ich lebe.

Betest du vor dem Spiel?
Ja.

Eine ketzerische Frage: Betest du für den Sieg?
Nein. Wenn ich in mich gehe, dann bete ich, dass ich die Kraft habe und die richtigen Entscheide treffen. Und dann denke ich an die Menschen, die mir nahestehen.

Die grosse Frage, welche die Kirchen beschäftigt, lautet, wie kann man Religion weitergeben. Wie steht es bei dir?
Ich bin getauft und konfirmiert worden und habe den Religionsunterricht besucht. Ich war eine der wenigen in der Klasse, die mit der Religionslehrerin diskutierte hatte. Ich fand ethische und gesellschaftliche Fragen spannend. Ethikunterricht finde ich wichtig. Man muss sich im Leben der Frage nach Werten und Tugenden stellen. In der Familie feiern wir die kirchlichen Feste, man sollte die Traditionen weitergeben.

Das geschieht oft nicht mehr.
Die religiöse Ahnungslosigkeit ist erschreckend. Da ist vieles verloren gegangen. Auch wenn man nicht jeden Tag betet, hilft einem der Glaube und die Kirche an Dingen festzuhalten, die wertvoll sind.

Zum Schluss, die ultimative Frage: Wer wird Weltmeister?
Für mich heben sich vier Teams ab: Brasilien, Frankreich, Spanien und Deutschland. Ich hoffe, dass die Schweiz sehr weit kommt. Wenn die Schweiz spielt, ist mein Herz dabei.

Und wenn Deutschland auf die Schweiz trifft?
Ja – na dann soll der Bessere gewinnen.

Aufgezeichnet von Tilman Zuber, kirchenbote-online, 25. Juni 2018

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