Die Opfer beim Namen nennen
In und um die Offene Kirche Heiliggeist in Bern wurden im Jahr 2019 die Namen von Menschen, die auf der Flucht gestorben sind, auf Stoffbänder geschrieben. Das Projekt «Beim Namen nennen» erhielt viel Resonanz und berührte. Nun findet am Flüchtlingstag im Juni die Aktion gleichzeitig in Basel, Bern, Luzern, St. Gallen und Zürich statt.
Ziel des Projekts ist es, der verstorbenen Geflüchteten zu gedenken. Jeder Name steht auf einem Stoffstreifen. Diese werden an Schnüren um die Kirchen gehängt. Die Aktion ruft zudem auf, Briefe an den Bundesrat zu schreiben als Protest gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik Europas und der Schweiz. Hinter der Aktion stehen über dreissig Organisationen.
Grosse Dankbarkeit
Am Projekt beteiligt ist auch Jerusalem Ilfu. Die 38-jährige Logopädin und Sängerin lebt seit 19 Jahren in Basel. Aufgewachsen ist sie auf der anderen Rheinseite, im deutschen Grenzach, «als sechstes und erstes Kind in einer friedlichen Umgebung weit weg vom Krieg», wie sie sagt. 1979 waren ihre Eltern wegen des Bürgerkriegs von Eritrea nach Deutschland geflohen. «Meine Eltern gaben mir aus Dankbarkeit den Namen Jerusalem, in dem Shalom, Friede, drinsteckt.» Nach ihr kamen noch weitere vier Geschwister zur Welt. Klar, dass im Hause Ilfu immer etwas los war. «Es ist ein Geschenk, in einer grossen Familie aufzuwachsen», erzählt Ilfu. «In einer Grossfamilie erzieht jeder jeden, was eine gute Übung ist für das spätere Leben.»
Nicht jeder ist seines Glückes Schmied
Als sie für das Projekt «Beim Namen nennen» angefragt wurde, sei ihr sofort klar gewesen, dass sie da mitmachen würde. «Da meine Eltern selbst Flüchtlinge waren, ist mir die Problematik sehr vertraut. Ausserdem sehe ich es als meine Pflicht und Verantwortung, diesen verstorbenen Menschen eine Stimme zu geben.» Nicht jeder könne seines Glückes Schmied sein. Dass ihre Eltern den Krieg überlebt haben und sich als Flüchtlinge ein neues Leben aufbauen und ihren Kindern vieles ermöglichen konnten wie Bildung und das Aufwachsen in einem sicheren Land, empfinde sie als Privileg. Dieses Vorrecht sei für ihre Eltern bis zum heutigen Zeitpunkt keine Selbstverständlichkeit. «Meine Eltern haben uns dies jeden Tag spüren lassen. Das Tischgebet brachte die Dankbarkeit fortwährend zum Ausdruck.»
Würdigung, Protest und Mahnmal
Das Projekt «Beim Namen nennen» sei ein Appell an die Menschen, sich mit den Schwachen und Hilflosen zu solidarisieren, Empathie und Interesse für deren Schicksal aufzubringen. «Es wäre schön, wenn wir die Leute für die Not der Flüchtlinge sensibilisieren könnten. Vielleicht bietet das Projekt ja auch Gelegenheit, sich mit der eigenen Verletzlichkeit, mit den eigenen Verlusten auseinanderzusetzen», ergänzt Jerusalem Ilfu. Das Projekt sei eine Chance, der Gleichgültigkeit und dem Egoismus etwas entgegenzusetzen. Wir seien heute mehr denn je dazu aufgerufen, an den Menschenrechten festzuhalten und sie als Leitlinien und Orientierung in unserem Handeln zu verankern.
Toni Schürmann, kirchenbote-online
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