«Die Menschen mit einer langen Predigt zu traktieren, geht gar nicht»
Carl Boetschi, wie haben sich Taufe und Konfirmation, Trauung und Abdankung in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Carl Boetschi: Früher war es selbstverständlich, diese Dienste in Anspruch zu nehmen. Das ist heute nicht mehr so. Grund sind gesellschaftliche Megatrends: Individualisierung und Traditionsabbruch.
Woran sieht man das?
Las man früher in der Zeitung «Beerdigung im engsten Familienkreis», so vermutete man, dass es da irgendwas zu verstecken gab – ein Streit oder ein Suizid, der immer noch schambehaftet ist. Heute ist es normal, dass Beerdigungen nicht mehr öffentlich sind. Die Coronapandemie hat diesen Trend verstärkt.
Was geht dabei verloren?
Ein Stück Gemeinschaft. Die Auseinandersetzung mit dem Tod. Man nimmt den Menschen die Möglichkeit, sich von verstorbenen Freunden zu verabschieden, auch wenn sie nicht zu den engsten Angehörigen zählten. Gemeinsam trauern zu können, ist wichtig.
Was ist die Botschaft einer Abdankung?
Bei allen Kasualien ist zentral, dass die Menschen gewürdigt werden, aber nicht verherrlicht. Ein zweiter Aspekt kommt aus dem Evangelium: Hoffnung, Vertrauen, Zuversicht.
Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sonst noch verändert?
Eine kirchliche Trauung – früher Usus – hat heute beinahe Bekenntnis-Charakter.
Was, du heiratest in der Kirche? Dann bist du fromm.
Genau.
Woran liegt das?
Ein Grund ist, dass in manchen Kreisen ein enormer sozialer Event-Druck herrscht bei Hochzeiten. Da werden ganze Pakete angeboten, mit Oldtimer und Drum und Dran. Für Hochzeitsplaner ist die Kirche aber nicht lukrativ, weil sie dort nichts verdienen. Sie verdienen an Provisionen, eines Fotografen zum Beispiel. Manche heiraten dann auf den Malediven, um diesem Druck zu entgehen. Das kommt immer noch günstiger.
Auch ohne Event-Druck kann man Rituale in Szene setzen, damit ein würdiges, stimmiges Ganzes entsteht. Wie geht man dabei vor?
Man braucht ein gutes Bauchgefühl für die Dramaturgie. Mir hat geholfen, dass ich mich lange mit Theater und Regie befasst habe.
Eine Dramaturgie zielt auf einen Höhepunkt. Was ist der Höhepunkt einer Konfirmationsfeier?
Das kommt darauf an für wen: für die Konfirmanden wohl der Konfirmationsakt selbst. Die Paten legen je eine Hand auf die Schulter der Jugendlichen als Zeichen dafür, dass sie sie in die Selbstständigkeit entlassen. Danach übergeben die Konfirmanden den Eltern eine Rose und bedanken sich bei ihnen. Da geht den Eltern einiges durch den Kopf: Schönes, aber auch «Chretz», die sie mit ihren Kindern durchgemacht haben. Für die Eltern ist wohl die Übergabe der Rose der Höhepunkt.
Welchen Stellenwert haben solche symbolischen Handlungen?
Das ist das A und O bei Kasualien. Wichtig ist: Man muss die Symbole nicht erklären und zerreden, sondern sie so in Szene setzen, dass ihre Bedeutung von selbst klar wird.
Zum Beispiel?
In Straubenzell haben wir die Tradition, dass die Hinterbliebenen zur Abdankung einen Stein mitbringen. Im folgenden Sonntagsgottesdienst tragen sie ihn dann in einer Zeit der Stille nach hinten und legen ihn in eine Schale. Dort bleibt er bis zum Ewigkeitssonntag. Dann holt man die Schale mit den Steinen, liest die Namen der Verstorbenen und legt die Steine zurück. Danach wird die Gemeinde eingeladen, Kerzen anzuzünden. Die Bedeutung dieses Rituals versteht man auch ohne Erklärung: Man gedenkt gemeinsam der Verstorbenen, legt den Stein der Trauer, der einem bedrückt, aber auch wieder ab.
Wo steckt Gott im Ritual?
Überall. Das ist eine Frage des Gottesbildes. Gott ist im Spiel, wo Menschen berührt werden.
Was muss man bei Kasualien vermeiden?
Eine halbstündige Predigt. Auch eine 20-minütige. Bei einer Kasualie stellen wir den Menschen ein Gefäss hin: bei einer Beerdigung für ihre Trauer, bei einer Taufe für ihre Freude, bei einer Konfirmation vielleicht für ihre Erleichterung oder ihren Stolz. Da soll man sie nicht mit einer überlangen Predigt traktieren.
Sondern?
Die Leute beteiligen, damit sie aktiv werden: dass sie zum Beispiel gemeinsam einen Psalm lesen, dass Götti und Gotte sich bei einer Taufe einbringen können. Eine Kasualie ist keine One-Man-Show. Meine Frau ist Organistin. Ich bin es gewohnt, alles mit ihr abzustimmen.
Und die Zusammenarbeit mit der Mesmerin?
Die ist essenziell. Dass die Mesmerin zum Beispiel das Mikrofon nicht abschaltet, während ich das Taufwasser eingiesse, damit man es plätschern hört. Da gibt es viele Facetten, die man absprechen muss.
Heute gibt es einen Markt von freiberuflichen Ritualbegleitern. Was können Pfarrerinnen und Pfarrer besser?
Ich möchte das umgekehrt angehen: Was machen Ritualbegleiter anders? Ich habe kürzlich eine Umfrage bei Friedhofsmesmern gemacht. In der Stadt St. Gallen werden etwa 15 Prozent der Abdankungen von Ritualbegleitern gemacht, auf dem Land weniger. Die Abdankungen des Ritualbegleiters – es ist in der Stadt fast immer dieselbe Person – seien gleich wie bei Pfarrern. Je nach Wunsch spricht er etwas mehr oder weniger von Gott. Aber es wird gesungen und gebetet, auch das Unservater. Pfarrerinnen und Pfarrer schöpfen aus dem Evangelium vielleicht noch einen hoffnungsvolleren Blick nach vorn.
Was macht ein Ritual evangelisch?
Dass es individuell gestaltet ist und nicht nach dem Messbuch. Trotzdem gibt es gleiche, erkennbare Elemente.
Konkret?
Ich gebe einem Kind nicht irgendeinen Taufspruch, sondern suche ihn bewusst aus. Kürzlich taufte ich ein Kind namens Tim. Ich sagte etwas über den Ursprung des Namens, über Timotheus und seine Freundschaft zu Paulus. Das ist individuell. Die Taufformel aber ist bei mir immer gleich.
Welche alten Zöpfe soll man abschneiden?
Taufe, Konfirmation, Trauung und Abdankung: Diese Zöpfe sollte man nicht abschneiden. Sie nehmen Einschnitte des Lebens auf, zwischen Geburt und Tod. Viel wichtiger ist, dass man in die grosse Lücke zwischen Trauung und Abdankung eine neue Kasualie einführt (siehe Kasten).
Mit mehr als vier Rädern
Neben dem «Vierradantrieb» – Taufe, Konfirmation, Trauung, Abdankung – gibt es eine Reihe kirchlicher Rituale, die Übergänge im Leben markieren. Manche sind bereits verbreitet, manche erst angedacht. Eine Übersicht ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Tauferinnerung
Einmal im Jahr gibt es einen Gottes-
dienst für alle, die im vergangenen Jahr getauft worden sind. So treffen sich die Familien der Täuflinge.
Einführung ins Abendmahl
Das Abendmahl dürfen die Kinder schon früher nehmen, aber hier wird es im Religionsunterricht speziell zum Thema gemacht. Als Höhepunkt teilen sie ihren Eltern das Abendmahl aus.
Schulanfang und Übertritt
Gottesdienst zum Anfang oder Ende des Schuljahres, zum Übergang von der Mittel- in die Oberstufe.
Trauversprechen erneuern
Manche Paare schätzen es, in einer neuen Lebenssituation ihr Trauversprechen zu erneuern.
Trennungsrituale
Eine Trennung oder Scheidung ist eine grosse Zäsur. In der St. Galler Kirche werden solche Gottesdienste seit dem Jahr 2000 angeboten.
Pensionierung
Gemeinsame Feier für neu Pensionierte.
Eintritt ins Altersheim
Der Übertritt ins Altersheim ist ein massiver Einschnitt. Frisch Eingezogene schätzen es enorm, am neuen Ort von einer Pfarrerin begrüsst zu werden.
Jubiläen
Feier bei runden Geburtstagen, Ehe- und Konfirmationsjubiläen.
Erinnerung an Sternenkinder
Gedenkfeier für Kinder, die vor oder kurz nach der Geburt verstorben sind.
(Zusammengestellt von Friederike Herbrechtsmeier, Hannes Witzig, Carl Boetschi, Stefan Degen)
«Die Menschen mit einer langen Predigt zu traktieren, geht gar nicht»