«Die Liebe müssen wir nicht loslassen»
Das warme Licht des Spätsommers wird in den Blättern der Bäume gebrochen. Wir sitzen im Innenhof eines Altbaus in Basel. Cornelia Kazis hat ihre Beine entspannt hochgelagert, die Lippen knallrot geschminkt, das kurze Haar nach hinten gekämmt. Sie trägt schwarz. Nicht aus Trauer, sondern weil sie es mag, erzählt die Journalistin, die schon immer ein Flair für verborgene Gesellschaftsthemen bewies.
2018 hat Cornelia Kazis ihren Mann an den Krebs verloren. Zwölf Jahre zuvor hatte der Werbefachmann die Diagnose erhalten. Die Krankheit hielt lange still, bevor sie ausbrach: Metastasen in den Knochen, in der Lunge und zuletzt im Hirn. Cornelia -Kazis begleitete ihren Mann bis zuletzt. In den letzten sechs Wochen seines Lebens war er nur noch ein «Bündel Leiden», der Tod bedeutete eine Erlösung. Als sie ihn ins Hospiz brachte und man ihr sagte, er werde in dieser Woche vermutlich noch sterben, war dies nicht nur eine Schreckensnachricht, Kazis fühlte sich in diesem Moment auch erleichtert. Auch solche Gefühle gehörten zur Trauer, sagt sie heute.
Informationen waren schwer zu finden
Als Cornelia Kazis klar wurde, dass sie Witwe wird, suchte sie nach Fachliteratur. Irritiert stellte sie fest, dass es zur Situation der Witwen zwar Forschungsergebnisse gab, jedoch keine Sachbücher. Sie beschloss, dies zu ändern. «Ich sass im Café Schiesser am Marktplatz in Basel und fragte mich: Was würde ich gerne lesen, welche historischen, psychologischen und soziologischen Forschungen sollte ich aufgreifen, wen will ich interviewen?
In zehn Minuten notierte die Journalistin und langjährige Radioredaktorin das Konzept auf einer Papierserviette. Kurze Zeit später erteilte der Verlag dem Projekt grünes Licht. 2019 erschien das Buch «Weiterleben, weitergehen, weiterlieben», diesen September bereits in der dritten Auflage.
Witwen – die Schattenfrauen
Die Arbeit am Buch, die Recherche und das Schreiben wurden für Kazis zu einem wichtigen Teil ihrer Trauerarbeit. Sie hat einen der wichtigsten Ratgeber für Witwen im deutschsprachigen Raum geschrieben. In der Schweiz leben 320’000 verwitwete Frauen. «Ihre Anzahl entspricht der Bevölkerung von Basel, Brugg und Thun zusammen», sagt Kazis. Doch die Betroffenen treten in der Gesellschaft kaum in Erscheinung. Cornelia Kazis nennt die Leidensgenossinnen «Schattenfrauen», da sie doppelt unsichtbar sind. Einmal als ältere Frauen, und dann, weil sie als Mahnmal das Schicksal verkörpern, das alle auch ereilen könnte: den Verlust des liebsten Menschen.
Das Schattendasein der Witwen hat eine lange Tradition. In der Generation der Grosseltern durften Frauen im ersten Jahr ihrer Trauer nur zum Gottesdienst, zum Einkaufen und aufs Grab des Mannes. Die Witwen waren mehr oder weniger in ihren eigenen vier Wänden eingeschlossen, stellt die Historikerin Heidi Witzig in Kazis’ Buch fest. Eingesperrt durch gesellschaftliche und religiöse Normen. Dieses Gebot der Unsichtbarkeit wirke bis heute weiter. Dabei hätten Witwen aus ihrer tiefgreifenden Erfahrung zum Umgang mit Verlust im Leben so viel zu sagen, ist Kazis überzeugt.
Weltverloren in einer Wolke
Nach dem Tod ihres Mannes fühlte sich Cornelia Kazis «weltverloren», wie in Trance, sagt sie: «Ich habe mich gewundert, dass die Kinder zur Schule gingen, die Trams fuhren und der Briefträger kam wie jeden Tag.» Man lebe wie in einer Wolke und vergesse, wo man den Schlüssel hingelegt hat und wie die Handynummer lautet. Am Anfang befürchtete Cornelia Kazis, sie werde dement. Ein Arzt erklärte ihr, dass die Vergesslichkeit davon herrühre, dass ihr Hirn nach dem Tod ihres Mannes so vieles zu verarbeiten habe. In dieser Situation brauche es viel «Selbstliebe und Selbstfürsorge».
Hoffnung über den Tod hinaus
Hilft der Glaube in dieser Situation? Ja, meint Cornelia Kazis, gerade die Vorstellungen vom Jenseits und die Hoffnung, sich vielleicht zu begegnen. Alle Frauen, die sie befragt hatte, waren überzeugt, dass die Liebe über den Tod hinaus weiterlebt. Viele besuchen das Grab ihres Liebsten, sprechen mit ihm, auch im Alltag. Manchmal stört dies die Angehörigen. «Lass doch endlich los, hör doch auf, geh in den Ausgang und zieh etwas Buntes an», lautet der Rat. «Solche Ratschläge brauchen wir nicht», ärgert sich Cornelia Kazis. «Wir Witwen lassen erstmals los, wenn sich der Sarg ins Grab senkt oder wir die Asche verstreuen. Wir lassen los, wenn wir am Morgen alleine aufstehen, alleine essen, alleine mit den Handwerkern verhandeln oder die Zahlungen erledigen. Plötzlich müssen wir alles alleine tun.» Witwen hätten schon längst begriffen, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist, aber die Liebe gehe doch weiter. «Die müssen und wollen wir nicht loslassen.»
Praktische Hilfe ist gefragt
Statt Ratschläge zu erteilen, sei es besser, praktische Hilfe zu bieten, meint Cornelia Kazis. Nachdem ihr Mann gestorben war, bot sich der Nachbar, ein Psychiater, an, ihr die Flaschen zu entsorgen und die Zeitungen zu bündeln. Diese Aufgaben hatte jeweils ihr Mann übernommen. Andere riefen an und luden sie zur spontanen «Spaghettata» mit Freunden ein. Wer wirklich helfen wolle, solle anpacken und sich melden, sagt Kazis. «Denn in der Trauer fehlt die Kraft, auf andere zuzugehen. Auch Komplimente bauen auf. Denn der Liebste, der einen damit erfreute, ist weg.»
Geholfen haben Kazis die «drei D»: die Dankbarkeit für die vielen Jahre, die sie mit ihrem Mann verbringen durfte, die Demut, das Schicksal anzunehmen im Wissen, gemacht zu haben, was möglich war, und die Disziplin, jeden Morgen aufzustehen, sich Tee zu kochen und ein schönes Kleid auszuwählen.
Cornelia Kazis sah sich seit Kindesbeinen als starke Helfende und musste nach dem Tod ihres Mannes lernen, sich Hilfe zu holen. Geholfen haben ihr Zeiten der Stille, der Besuch von Kirchen, Musik und Gedichte, etwa die Zeilen der schicksalsgeprüften jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer: «Noch bist du da, sei, was du bist, gib, was du hast.» Oder von Hilde Domin: «durchnässt bis auf die Herzhaut.» Dieses Bild treffe genau die Trauer, «man ist unglaublich dünnhäutig und darauf angewiesen, dass die anderen mit dir lieb sind. Und wenn sie dann so nett sind, musst du heulen. Aber das ist gut so.»
Witwen finden sich besser zurecht als Witwer
80 Prozent der verwitweten Personen in der Schweiz sind Frauen. Gemäss der Enwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello verwinden Frauen den Verlust besser als Männer. Witwen verfügen über mehr soziale Kontakte, reden über ihre Gefühle und meistern den Alltag besser. Bei Witwern steigen das Suizidrisiko und die Suchtgefahr, den Schmerz mit Alkohol zu betäuben, stark an. Oder sie suchen sich rasch eine neue Partnerin, die ihnen im Alltag hilft, kocht und ihr soziales Leben regelt. Perrig-Chiello hat festgestellt, dass viele Witwer innerhalb von eineinhalb Jahren wieder verpartnert sind und mit einer neuen Frau zusammenleben.
Was bedeutet die Zeit der Witwenschaft? «Freund Hein ist ein strenger Lehrmeister», sagt Cornelia Kazis nachdenklich. «Ein sehr strenger Lehrmeister.» Der Verlust des Partners bedeute eine Neudefinition des ganzen Lebens, eine Neupositionierung der eigenen Person im Alltag. «Man ist verloren und es braucht Zeit, bis man sich wiedergefunden hat.»
Und wie steht es mit einer neuen Liebe? Cornelia Kazis kann sich dies nicht vorstellen. Aber wenn es geschieht, sei dies wunderbar. Gerade als junge Frau sollte man sich über dieses Geschenk freuen und schon früh seine eigene Geschichte in der neuen Beziehung einbringen. Der neue Mann werde nie den Vater der -Kinder oder den verstorbenen Partner ersetzen. Er ist die neue Liebe. Und das, was sich die Verstorbenen für das Leben ihrer Liebsten eigentlich wünschten, glaubt die Autorin.
Tilmann Zuber, kirchenbote-online
«Die Liebe müssen wir nicht loslassen»