Die kleine Milla und das grosse Glück
Es ist Nacht. Die kleine Milla sitzt ganz oben in der alten Eiche. Der Himmel ist milchstrassenklar. Mama und Papa sind auf der Jagd. Milla wartet. Die Nacht ist lang. Sie zählt die Sterne und lauscht den Geräuschen des Waldes.
Mama und Papa Eule kommen nach Hause. «Ju-huhu», ruft Papa. «Zwei Bücher in einer Nacht!» Milla hat Hunger. «Nur Bücher?» «Wir hatten grosses Glück», sagt Mama. «Warum?», fragt Milla.
«Weil wir wieder etwas zu lesen haben.» Mama Eule streicht mit dem Flügel über den Buchdeckel. «Den Schnabel tief in ein Buch zu stecken, das ist das grösste Glück.» Milla nimmt ein Buch. Sie sucht aussen und innen. Sie klopft und schüttelt, aber das Glück fällt nicht heraus.
Die kleine Milla hüpft über die Wipfel zur schiefen Tanne. Dort wohnt der alte Uhu. «Huhu, hast du mich erschreckt.» «Tut mir leid. Warum heulst du denn so?» «Weil das meine Aufgabe ist. Es ist wichtig, dass jemand über all das Traurige in der Welt weint.» «Und du liest keine Bücher?» «Nein. Ich weiss schon alles.»
«Weisst du auch, wo ich das grosse Glück finde?» «Finde es selbst heraus, Milla.» «Aber ich will es jetzt finden.» Der Uhu gähnt. «Später, Milla.» Schau nur, es wird schon Tag.» Und schon ist der Uhu eingeschlafen. Vielleicht suche ich nicht tief genug, denkt Milla. Sie schaut nach unten, breitet ihre Flügel aus und flattert Ast für Ast hinunter, bis sie auf einer Wiese landet.
Dort trifft Milla den Hasen. «Hey, kleine Eule, was machst du denn hier mitten am Tag?» «Ich suche das grossen Glück.» Der Hase holt ein kleines Tütchen mit Samen aus seiner Tasche. «Das hier ist das grosse Glück. Zuerst sind es nur kleine Samen.
Dann steckst du sie in die Erde. Wenn du lange genug wartest, wachsen Karotten. Die kannst du essen. Das ist das grösste Glück, das es gibt.» Der Hase gibt Milla eine Karotte und hoppelt davon. Milla pickt. Hart, denkt sie. Und kalt.
Anna Schindler wuchs in Deutschland und in der Schweiz auf. Nach einer Schauspielausbildung in Bern folgten viele Lehr- und Wanderjahre an verschiedenen Theatern in Deutschland und der Schweiz. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Schauspielerin. Sie schreibt Theaterstücke, Geschichten und Gedichte. Sie hat bisher neun Kinderbücher veröffentlicht. www.anna-schindler.ch
Da sieht sie zwei Schmetterlinge, die über die Wiese flattern. Schnell fragt sie die beiden: «Was ist das grösste Glück?» «Zusammen tanzen», flüstert der Schwalbenschwanz. «Nektar naschen», wispert der Zitronenfalter.
Milla versucht zu tanzen. Sie breitet ihre weichen Flügel aus und dreht sich. Ihr wird schwindelig. Plumps! Sie steckt ihren Schnabel in eine Blüte, um Nektar zu trinken. Da begegnet ihr eine Biene. «Weg da», zischt sie und zeigt ihren Stachel. Milla erschrickt und flattert davon.
Milla entdeckt eine Katze. Sie liegt auf einer Steinplatte und schläft. «Weisst du, was das grösste Glück ist?» Die Katze blinzelt träge. «Ungestört in der Sonne dösen und mir den Pelz wärmen lassen.»
Das sieht gemütlich aus. Milla will auch dösen. Aber die Sonne ist heiss und hell. Milla flüchtet in den Wald.
In einem Baumwipfel entdeckt Milla die Adlerfamilie. «Hallo, ihr da oben. Wisst ihr, was das grösste Glück ist?» «Sich vom Wind tragen lassen», rufen die Adlerkinder. «Fliegen», krächzt die Adlermama und schwingt sich in die Luft. Sie fliegt höher und höher.
Milla macht es dem Adlern nach. Doch da ziehen Wolken und Wind auf. Milla wird hin und hergeworfen und trudelt zurück zur Erde.
Milla findet sich ganz zerzaust neben einem grossen Bären wieder. «Honigbrote», sagt der Bär, als Milla nach dem grössten Glück fragt. «Willst du eins probieren?» Und schon holt er einen Topf Honig und einen Laib Brot aus seiner Tasche und schmiert Brote.
Milla ist hungrig. Das Brot schmeckt süss. «Mmh, nicht schlecht», bedankt sie sich. Aber glücklich macht sie das nicht.
Am Himmel sind jetzt viele Wolken. «Tock-Tock-Tock», tönt es aus dem Wald. Milla sieht sich um. Da sieht sie einen bunten Vogel, der mit seinem Schnabel ein Loch in einen alten Baumstamm hackt. Milla hüpft näher. «Wer bist du denn?», will sie wissen. «Specht. Buntspecht.» Der Vogel hämmert weiter.
«Weisst du, was das grosse Glück ist?» «Klopfen. Futter finden.» Der Specht zieht einen fetten Käfer aus dem Loch und gibt ihn Milla. Der schmeckt viel besser als das Honigbrot. Sie will auch Löcher hacken.
Aber ihr Schnabel ist zu krumm. «Aua!» Die Baumrinde ist hart und der Kopf tut weh.
Es beginnt zu regnen. Da entdeckt sie einen Fuchs, der seine Nase aus dem Bau streckt. Milla trippelt näher. «Hallo Fuchs. Bestimmt weisst du, was das grösste Glück ist?»
Der Fuchs lächelt. «Und ob ich das weiss! Am Höhleneingang liegen und dem Regen zuhören.» Das Rauschen des Regens gefällt Milla. Er ist kühl und riecht nach frischem Wald. Und das Moos ist weich und warm. Die Regentropfen verschwimmen vor ihren Augen und sie schläft ein.
Als Milla wieder erwacht, ist es Nacht geworden. Der Fuchs ist verschwunden. «Wo bin ich?», fragt Milla. Die Fledermäuse jagen durch die Nacht und sausen dicht an Milla vorbei. «Suchst du immer noch das Glück?
Kopfüber hängen ist das grosse Glück. »Doch Milla will nicht kopfüber hängen. Sie will nach Hause. In der Dunkelheit sieht Milla helle Punkte schimmern. Sie tanzen durch die Nacht.
«Wer seid ihr?», will Milla wissen. «Wir sind Leuchtkäfer.» «Könnt ihr mir sagen, wie ich zur alten Eiche komme?» Die Glühwürmchen kichern. «Du sitzt doch genau drunter.» Milla flattert nach oben.
«Milla! Da bist du ja!», freut sich Papa. «Schön, dass du wieder da bist», ruft Mama. «Was hast du denn gemacht?», fragen beide. «Ich habe das grosse Glück gesucht.» «Und? Hast du es gefunden?» «Das ist eine lange Geschichte.»
Eingekuschelt zwischen Mama und Papa Eule erzählt Milla ihre Geschichte. Vom heulenden Uhu. Vom Hasen und seinen Samen. Von den tanzenden Schmetterlingen. Von der schlafenden Katze. Von der Flugstunde mit den Adlern.
Vom Bären mit dem Honigbrot. Vom Specht und dem Käfer. Vom Fuchs und dem Regen. Von den Fledermäusen, die kopfüber hängen. Und von den Glühwürmchen, die ihr den Weg gezeigt haben. Mit leuchtenden Augen hören die Eulen-Eltern zu.
Milla kann die Wärme ihrer Federn spüren. Das ist mein grösstes Glück, denkt sie. In der Nacht unter dem Sternenhimmel zwischen Mama und Papa Geschichten erzählen.
Sommerserie Kindergeschichten
«Mir ist langweilig!» «Wann sind wir endlich da?» «Ich will aber zocken!» «Ich habe mein Buch schon fertig.» Wer kennt es nicht: die ersehnten Sommerferien sind da und damit jede Menge Zeit. Lust auf eine neue Geschichte? In der Sommerserie «Kindergeschichten» geht es um Kinder und Tiere, die füreinander da sind, voneinander lernen und das grosse Glück suchen.
Geschichten für Kinder und Erwachsene zum Lesen, Vorlesen und Erzählen. Ob im Zug, am Strand oder zu Hause auf dem Sofa, wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer!
Erscheinungstermine
Dienstag, 16. Juli: Die kleine Milla und das grosse Glück, von Anna Schindler
Dienstag, 23. Juli: Mara, von Franz Osswald
Dienstag, 30. Juli: Tobias erlebt ein Abenteuer, von Noemi Harnickell
Dienstag, 6. August: Der Schuhschnabel, von Tilmann Zuber
Dienstag, 13. August: Charlie und das Wunder des Lebens, von Swantje Kammerecker
Die kleine Milla und das grosse Glück