«Die Kirche sollte sich in die Gesellschaft einbringen.»
2017 feiern die evangelischen Kirchen das Reformationsjubiläum: Vor 500 Jahren schlug der deutsche Reformator Martin Luther seine 95 Thesen an die Kirchentüre der Wittenberger Schlosskirche. Luthers Schriften veränderten die europäische Gesellschaft und spalteten die Kirchen.
Zum Jubiläum rief der Schweizer Evangelische Kirchenbund SEK dazu auf, neue Thesen zu formulieren. Grundlage bildete die Broschüre «Mit 40 Themen auf dem Weg». Im letzten Jahr verfassten die Kantonalkirchen und andere Gremien ihre Thesen, die nun erstmals in gesammelter Form schriftlich vorliegen.
Spiritualität im Zentrum
Formal sind die eingegangenen Beiträge völlig verschieden: Sie reichen von ausführlichen theologischen Abhandlungen, eingereicht von der Basler Münstergemeinde, über Kurzformeln aus dem Aargau bis hin zum Gedicht aus der Feder des Zuger Kirchenrats.
Inhaltlich stellen die meisten Kantonalkirchen in ihren ersten Thesen Gott und die Bibel ins Zentrum. «Gott redet unablässig, aber wir hören ihm oft nicht zu», gesteht die Thurgauer Landeskirche. Und die Solothurner beginnen damit, dass «an Gott zu glauben heisst, mit seinem Wirken zu rechnen».
Lediglich drei Kantonalkirchen fallen aus dem Rahmen: Der Synodalrat der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn erklärt als Erstes, «dass der Glaube eine persönliche Sache ist. Im Glauben kann uns niemand vertreten, weder die Kirche noch eine andere Gemeinschaft.» Die Bündner betonen die Volkskirche: Die Reformierte Kirche soll sich vermehrt «im Sinne Comanders als Basiskirche positionieren». Die Kirche soll «von den Leuten getragen werden und zu den Leuten gehen». Und die Zürcher Kirche leitet ihren Beitrag mit der Feststellung ein, dass «die Macht des Geldes zu begrenzen ist».
Wo bleibt die reformierte Stimme?
An einer Podiumsdiskussion, die im Vorfeld der letzten SEK-Abgeordnetenversammlung stattfand, äusserten sich Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kirche zu diesen Thesen. Laurent Schlumberger, Präsident der Vereinigung Protestantischer Kirchen Frankreichs, zeigte sich erfreut, dass die Kirchen die Spiritualität ins Zentrum stellten. Meist seien die Leute erstaunt, wenn die Reformierten so dezidiert von Christus sprechen. Er forderte, dass die Kirchen noch stärker Widerstand leisten gegen die «Heiligung des eigenen Egos in der Gesellschaft».
An diesem protestantischen Widerstand rieben sich die Politiker und der Wirtschaftsvertreter. Statt Widerstand verlangten sie von der reformierten Kirche, sich den gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen. Gerade dieser Aspekt fehle in den Thesen.
Isabelle Chassot, Direktorin des Bundesamtes für Kultur, verwies auf die Globalisierung, Migration, Digitalisierung, Individualisierung und Überalterung. Hier vermisse sie den Diskurs mit einer reformierten Kirche, die nicht nur Widerstand leisten, sondern sich in die Gesellschaft einbringen sollte.
Der baselstädtische Regierungspräsident Guy Morin stimmte ihr zu. Der Staat müsse sich zunehmend mit religiösen Fragen auseinandersetzen. Die Entwicklung der öffentlichen Debatte zu Minaretten, zum Händeschütteln in der Schule und Verteilen des Korans gefalle ihm nicht. Ihm fehle da die Stimme der Kirche. «Ich finde es eigenartig, wie wenig Fragen sich die Reformierten zum Verhältnis von Kirchen und Staat stellen», so Morin.
Werte in die Gesellschaft tragen
Die Thesen seien ihm fremd, er sehe keine Anknüpfungspunkte zu seiner Welt, erklärte Rudolf Wehrli, Verwaltungsratspräsident des Chemieunternehmens Clariant. Die Wirtschaft habe der Reformation und Aufklärung vieles zu verdanken. Die Protestanten hätten viele Werte geprägt. Umso bedauerlicher sei, so der Wirtschaftsvertreter, dass die Reformierten dazu keinen Beitrag mehr leisteten. Heute blieben in der Unternehmenskultur Treu und Glaube, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit auf der Strecke. Dafür herrsche eine «groteske Verrechtlichung», weil keiner mehr dem anderen traue. Dazu hätte die reformierte Kirche doch einiges zu sagen, meinte Wehrli.
Kirche soll sich nicht instrumentalisieren lassen
«Es ist nicht die Rolle der Kirche, Werte anzubieten», konterte Laurent Schlumberger, «sondern Jesus Christus zu bezeugen.» Man dürfe die Werte nicht verheiligen. Auch Christine Aus der Au wehrte sich dagegen, dass sich die Kirche von der Wirtschaft instrumentalisieren lasse. «Ist es die Aufgabe der Kirche, die Menschen zu anständigen, Steuer zahlenden und wohltätigen Mitgliedern zu erziehen?», fragte die Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Die Kirche leiste der Gesellschaft immer ein Stück weit Widerstand. Das habe mit ihrer Herkunft zu tun, und damit «dass Gott zu den Armen komme».
Tilmann Zuber / Kirchenbote / 29. November 2016
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
«Die Kirche sollte sich in die Gesellschaft einbringen.»