«Die Kirche muss sich verschenken»
Seit 2009 amtet Martin Stingelin als reformierter Kirchenratspräsident Baselland. Auf Ende Jahr tritt er nun zurück. Am heutigen Dies academicus verlieh ihm die Universität Basel die Würde eines Doktors der Theologie ehrenhalber: «An der Schnittstelle von Kirche und Wirtschaft setzte sich Pfarrer Martin Stingelin für die Zusammenarbeit der Kirchen auf nationaler und internationaler Ebene ein, förderte interreligiöse Beziehungen und engagierte sich für Menschen am Rande der Gesellschaft. Dabei stehen immer wieder Themen wie Bildung, soziale Verantwortung, Chancengleichheit, Armutsbekämpfung und Integration im Vordergrund», schreibt die Universität. Für Martin Stingelin solle «die Kirche als Akteurin in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft Verantwortung übernehmen und dem Wohl der ganzen Bevölkerung dienen. Dabei geht es Stingelin immer auch um die Relevanz des Glaubens im Alltag», heisst es weiter.
«Die Kirche zukunftsfähig gemacht»
Am Vorabend des Dies academicus hielt Martin Stingelin an der Theologischen Fakultät einen Vortrag über die Entwicklung der reformierten Kirche Baselland und die Herausforderungen für die Kirchenleitung. Der Baselbieter Kirchenratspräsident «hat die Kirche zukunftsfähig gemacht», sagte Professor Reinhold Bernhardt, Dekan der theologischen Fakultät. Unter dem Präsidium von Martin Stingelin geschah die Totalrevision der über 65 Jahre alten Kirchenverfassung, die Mitte November von der Synode verabschiedet wurde und nächstes Jahr den Kirchenmitgliedern zur Abstimmung vorgelegt wird.
Die Anforderungen an das Leiten einer Kirche seien gestiegen, sagte Martin Stingelin, und entwickelte im Folgenden am Beispiel Baselland Ansätze für eine zeitgemässe Kirchenleitung. Lange Zeit habe man nicht über die Leitung einer Kirche diskutieren müssen, so Stingelin. Bis 1952 waren die politischen zugleich auch die kirchlichen Behörden. Die reformierte Kirche Baselland war eine Pfarrkirche und ihre Organisation war der Pfarrkonvent, der wichtige kirchliche Fragen erörterte und Ansprechpartner des Regierungsrats war. Erst mit der Verfassung und Kirchenordnung erhielt die Kirche in den Fünfzigerjahren eigene Strukturen. In erster Linie sei es dabei um die Gestaltung des kirchlichen Lebens gegangen, erklärte Martin Stingelin. Heute hingegen verstehe man unter Kirchenleitung Aufgaben wie die Entwicklung von Perspektiven, Profilbildung, strategische Steuerung und Mitarbeiterführung.
Was bedeutet «geistliche Leitung»?
Dazu komme die Forderung nach einer geistlichen Leitung. Ein entsprechender Paragraf, der diese Aufgabe den Kirchenpflegen überträgt, wurde erst im Jahr 2013 in die Kirchenverfassung aufgenommen. «Geistliche Leitung» könne man jedoch nicht in Worte fassen, meinte Stingelin. Denn es sei Gottes Wort, das leitet und der Leitung eine Bestimmung gebe.
Die Zahlen, die Stingelin präsentierte, werfen ein Schlaglicht auf die grossen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten. Zwar ist die reformierte Kirche heute mit über 85‘000 Mitgliedern grösser als 1950 mit rund 78‘800 Mitgliedern. Gehörten 1980 im Baselbiet jedoch noch 99 Prozent der Einwohner einer Landeskirche an, waren es im letzten Jahr nur noch 55 Prozent. Der Rückgang um durchschnittlich 1‘500 Mitglieder pro Jahr seit 2010 ist aber weniger den Austritten als vielmehr der Altersstruktur geschuldet. So ist der Anteil der über 70-Jährigen von 2012 bis 2016 um drei Prozent gewachsen. Taufen und Konfirmationen finden immer seltener statt, die Abdankungen nehmen zu. Die Mitglieder sterben den Kirchen weg.
Reformierte Tradition kennen
Die Kirche habe in der Gesellschaft an Relevanz verloren, «Glaube ist Privatsache», sagte Martin Stingelin. Zudem geschehe ein Traditionsabbruch. Weil viele Pfarrpersonen nicht mehr aus der Landeskirche kommen, seien auch sie keine Garanten für die Weitergabe von reformierten Traditionen, erklärte der Baselbieter Kirchenratspräsident. «Es reicht nicht, über ‚fresh expressions‘ informiert zu sein. Man muss auch wissen, woher wir Reformierten kommen.» Hier müsse die Leitung auch den Auftrag für die Gestaltung der Kirche erfüllen.
Die Suche nach Ehrenamtlichen für die Kirche sei heute schwierig, sagte Martin Stingelin, «der Arbeitsaufwand wächst». Die in der Kirchenordnung geforderte «echte Beteiligung am kirchlichen Leben» sei nicht mehr selbstverständlich. «Heute muss man erklären, dass zu einem Amt in der Kirchenpflege der Besuch der Gottesdienste dazugehört und viele Ehrenamtliche sieht man nach ihrem Rücktritt kaum mehr.»
Und nicht zuletzt geht es ums Geld. Bisher steige der Steuerertrag trotz abnehmenden Mitgliederzahlen, so Martin Stingelin. Im Gegensatz zum Beitrag, den der Kanton der Kirche pro Mitglied überweist. Weniger Mitglieder bedeutet weniger Einnahmen. Noch gehe es vielen Kirchgemeinden finanziell gut, doch «irgendwann kommt der Einbruch. Wann? Das weiss man nicht», erklärte Stingelin. Aber auch unter veränderten finanziellen Bedingungen müssten die kirchlichen Strukturen funktionieren.
Grosse Erwartungen an die Kirchenleitung
Als weitere Herausforderungen an die Kirchenleitung zählte Stingelin die Zunahme von Konflikten innerhalb der Kirche durch unklare Kompetenzregelungen auf, das Fehlen von qualifizierten Sozialdiakoninnen und -diakonen sowie ein sich abzeichnender Pfarrmangel auf. Eine Kirchenleitung sei heute mit den unterschiedlichsten Erwartungen konfrontiert, die nicht einfach zu vereinbaren seien: «Probleme lösen, aber nicht dreinreden», «innovativ sein, aber auch Traditionen bewahren», «visionär und prophetisch sein», «Sachverstand in den Bereichen Finanzen, Theologie, Diakonie und Kommunikation haben», «Mitgliederrückgang stoppen» und «motivieren».
Als sinnvoll erachtet der Kirchenratspräsident eine «gabenorientierte» Leitung. Die Verantwortung konzentriert sich nicht auf eine Person, sie liegt bei mehreren, die verschiedene Kompetenzen einbringen. Für Stingelin muss die Kirchenleitung vor allem glaubwürdig sein, er fände es schlimm, wenn von einer Kirchenleitung gar nichts mehr erwartet wird.
Die Kirche existiert weiter
Er habe keine Angst um die Zukunft der Kirche, meinte Martin Stingelin: «Die Kirche lebt, wenn sie versucht, ihren Auftrag zu erfüllen.» Gäbe es eines Tages die Landeskirche in dieser Form nicht mehr, würde ihn dies zwar traurig machen, doch er ist überzeugt: «Die Kirche wird in anderer Form weiterexistieren.» Die kirchliche Arbeit müsse den Menschen dienen: «Die Kirche soll sich für die Menschen einsetzen und sich verschenken», forderte Stingelin. «Auch wenn man nicht weiss, wie das herauskommt, muss man Vertrauen haben.»
Karin Müller, kirchenbote-online, 29. November 2019
«Die Kirche muss sich verschenken»