Die Junge Seite
Von Liv Knecht
Als mein Wecker am Morgen des 29. Dezembers klingelte, hatten meine Augen zunächst Mühe, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Noch schlaftrunken tastete ich nach meiner Nachttischlampe, wo meine Hand nur ein kühles, beschlagenes Fenster fand. Spätestens als ich mich an einem Sessel stiess, wurde mir klar, dass ich mich nicht zuhause, sondern in einem Hotelzimmer in London befand. Erinnerungsfetzen setzten sich langsam zu einem vagen Bild zusammen: Wir waren am Tag zuvor nach London geflogen. Ich hatte meinen Wecker gestellt. Ich wollte joggen gehen. Noch ziemlich motivationslos zog ich also die Vorhänge auf und kramte im spärlichen Licht der Strassenlaternen, das Kopfsteinpflaster beleuchtend, in meinem Koffer nach Tights und einem Langarmshirt. Für die Shorts war es womöglich nun doch zu kalt …
Loslassen, um zu fliegen
Bewaffnet mit der «Maps»-App auf meinem Handy und meiner Lauf-Uhr stand ich schliesslich zehn Minuten später vor unserem Hotel. An diesem Morgen verlängerte ich das obligatorische Aufwärmen ein wenig – insgeheim auch, weil sich meine Motivation, loszurennen, noch immer in Grenzen hielt. Sobald die ersten paar hundert Meter geschafft waren und ich reüssiert hatte, den altbekannten Schmerz in meinem rechten Knie auszublenden, begann ich den Lauf zu geniessen. Beim Laufen kann ich alles loslassen – ob Alltagssorgen oder Gedanken an die nächste Schularbeit. Immer und immer leichter wurden meine Schritte, bis ich das schwebende Gefühl erreicht hatte, das ich am Laufen so liebe: das Gefühl, all seine Kraft dafür einsetzen zu können, immer schneller zu werden. Zu laufen, bis Beine und Lunge brennen, immer weiter. In solchen Momenten, Strassen und Parks durchquerend, erscheint mir die Welt immer wieder aufs Neue riesig. Die einzelnen Bedürfnisse schrumpfen und die Faszination am Leben erfüllt mich. Es ist ein einzigartiges Gefühl – es scheint sich alles zusammenzuziehen vor Bewunderung und Ehrfurcht, doch zugleich breitet sich eine angenehme Wärme aus. Pures Glück.
Die Kunst, Wunder erkennen zu können
Als ich schliesslich den «Big Ben» erreichte, hatte die Aussicht etwas beinahe Übernatürliches. Vielleicht waren es die Endorphine, vielleicht der rosafarbene Himmel – oder vielleicht war es auch einfach die Erfahrung eines Wunders, die ich an diesem nebligen Dezembermorgen in London machen durfte. Ich versuchte, den Moment so gut wie möglich in mir aufzunehmen, weil ich wusste, dass ich ihn so nie mehr erleben würde. Dieser Augenblick machte mir bewusst, wie selten wir kurz innehalten, um wirklich zu sehen, was da ist. Um das Leben voll und ganz zu fühlen, aufzunehmen, zu leben – was auch immer das bedeuten mag ...
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