Der Zug war voll
«Wo ist er?», fragte Marie ihren Mann.
«Ich sagte dir doch schon: ich weiss es nicht. Beim Einsteigen in K. habe ich ihn noch gesehen, aber danach nicht mehr. Der Zug ist zu voll. Man kommt nicht durch.»
Das stimmte: Alle Sitze waren belegt. Der Gang verstopft. Der Zug war proppenvoll. Und nicht nur das: Die DB hatte einen alten Zug mit 6er-Abteilen aufgeboten, um Besucher des Evangelischen Kirchentags von K. nach FR. zu transportieren. Der Sonderzug zockelte die Strecke am Rhein entlang. In FR. wollten Joe, Marie und ihr Sohn in einen IC umsteigen, der sie in die Schweiz bis B. bringen sollte. Von dort war es nur ein Katzensprung bis zu ihrem Wohnort L.
«Es wird ihm doch nichts passiert sein.»
«Quatsch!»
«Und niemand aus unsrer Kirchgemeindegruppe hat ihn gesehen?»
«Alle haben mir am Handy gesagt: Nicht mehr seit kurz nach dem Einstieg. Und sein Handy nimmt er nicht ab.»
«Ich weiss.»
«Warum nur hast du nicht aufgepasst!?»
«Ich? Nur ich? Ja und DU?»
Sie schauten sich genervt an. Schliesslich meinte er vermittelnd:
«Wir sind bald in M.: Da steigen sicher viele aus. Dann können wir zum Kondukteur gehen und ihn im Zug ausrufen lassen.»
Tatsächlich: In M. verliessen viele den Zug. Einige sahen sehr müde aus nach vier Tagen «Kirchentag». Andere lachten aufgekratzt oder sangen eines der Kirchentags-Ohrwurm-Lieder. Joe schob das Fenster herunter, lehnte sich heraus und beobachtete das Treiben auf dem Bahnsteig. Er sah den Zug entlang. Ganz vorne luden zwei Männer aus dem Zug einen Riesenkasten – er wirkte grösser als ein Kontrabass-Hardcase. Der Kasten musste schwer sein. Sie schleppten sich ab. Die Armen, dachte Joe, und das bei der Hitze.
Ein Pfiff ertönte. Der Zug setzte sich in Bewegung. Marie wartete schon ungeduldig im Gang auf Joe. Bald fanden sie das Kondukteur-Abteil. Marie klopfte heftig. Ein verschlafener Uniformierter öffnete die Abteiltür ein Stückchen und fragte, was sie wolle. Marie erklärte ihm kurz ihr Anliegen. Sofort war der Mann hellwach. Er holte sein Dienstkäppi und öffnete dabei die Tür ganz. Auf einem Sitz lag eine Sonntagsboulevard-Zeitung. Joe und Marie lasen die Schlagzeile: «Polizei warnt vor gefährlichem Kinderhändlerring.» Der Kondukteur schloss die Abteiltür und schob die beiden sanft vor sich her in den hinteren Teil des Wagens. Von dort aus gab der Kondukteur eine Suchmeldung durch. Sie wurde im ganzen Zug in den Gang und in alle Abteile übertragen. Nach fünf Minuten wiederholte er die Durchsage. Passagiere begannen nach dem Jungen zu suchen. Aber sie fanden ihn nicht.
Nach einigen Minuten erfolgloser Warterei rief der Kondukteur die Bahnpolizei an. Er stellte sein Handy auf laut. «Danke», sagte der Polizist, «für Ihre Meldung. Wir nehmen sie sehr ernst. Wir wissen, dass in der Gegend zwischen M. und F. ein Kinderhändlerring aktiv ist. In der letzten Zeit sind dort einige Kinder zwischen 3 und 13 Jahren verschwunden. Auf dem Schulweg, aus Kindergärten, aus Zügen.»
«Sollen wir auf irgendetwas achten?», fragte der Kondukteur.
«Mmh. Irgendwie muss ein Kind ja heimlich abtransportiert werden. Achten Sie auf Auffälliges – zum Beispiel grosse Kisten. Halten Sie uns auf dem Laufenden. Bei der nächsten Station kommt Polizei an Bord. Ich verständige die Kollegen in KA.» Der Kondukteur legte auf.
Joe erbleichte und sagte stotternd: «Der … der … Kontrabass-Hardcase …» Die beiden anderen schauten ihn fragend an. Joe erklärte. Der Kondukteur telefonierte erneut.
Joe entschloss sich, in KA. den Zug zu verlassen und nach M. zurückzufahren. Marie setzte sich in ein leeres Abteil und begann zu weinen. Ihr Mann versuchte, sie zu trösten.
In KA. bestiegen fünf Polizisten mit ernsten Mienen den Zug. Sie wollten mit dem Kondukteur und den Eltern reden. «Machen Sie sich keine Sorgen», meinte ein Polizist, «wir finden ihren Sohn – selbst wenn er entführt wurde.» Erst jetzt machte sich Joe echte Sorgen. Er riss sich von der Gruppe los und stieg aus dem Zug. Er spürte eine tiefe Verzweiflung in sich aufbrechen. Immer schneller ging er in Richtung der Treppen zur Unterführung. Er wollte nicht, dass man ihn weinen sah. Da öffnete sich ein Abteilfenster und eine Stimme im Stimmbruchalter rief: «Wohin gehst Du? Wir sind noch nicht in FR.!» Joe drehte sich um und … sah seinen Sohn. Glücklich rannte er vor das Fenster und umarmte seinen Sohn – zog ihn schliesslich sogar aus dem Fenster heraus und nahm ihn fest in die Arme.
Bald hatte sich alles geklärt: Ihr Sohn war in ein Abteil gegangen, in dem er drei Theologie-Professoren und zwei Biologie-Professorinnen der Universität B. wiedererkannt hatte, die jeweils Vorträge und Bibelarbeiten auf dem Kirchentag gehalten hatten. Obwohl erst knapp 13 Jahre alt, hatte er sie mit seinen Fragen in ein theologisches Gespräch verwickelt. Die Gelehrten waren erstaunt und gebannt ob der Thesen des Jugendlichen. Die Diskussion war so spannend, dass sie Ablenkungen ausblendeten: Sie hatten die Vorhänge zugezogen und den Lautsprecher ausgestellt – und nichts von der Suche mitbekommen. Nun sahen die Fünf etwas betreten vor sich hin und entschuldigten sich.
Marie nahm ihren Sohn glücklich in die Arme und fragte ihn vorwurfsvoll: «Hast du dir denn nicht gedacht, dass wir dich suchen würden?« Er wand sich, denn diese ständigen Umarmungen waren ihm peinlich. Schliesslich sagte er: «Ich fand, dass ich hierher gehöre. Fühlte mich wohl hier.»
Erstaunt sahen ihn seine Eltern an: «Weil sie Profs sind?»
«Weil sie Kirche sind …»
«Nun ja ...», meinten seine Eltern kopfschüttelnd.
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Achim Kuhn, 1963, verheiratet, drei Söhne, ist seit 2014 reformierter Pfarrer in Männedorf. Er ist Autor und Herausgeber diverser Publikationen, zum Teil zusammen mit seiner Frau: Anthologien zu Lebensfragen; Musicals; Kriminalromane zu ethischen und gesellschaftspolitischen Themen. Vor kurzem erschien ihr Kriminalroman «Hohe Kunst und eine Leiche», Achim Kuhn und Regina Schellpeper, Jordan Verlag, www.achim-kuhn.ch
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