Der alte Fischer und sein Friedhof
«Hier auf meinem Friedhof, bei den Toten, habe ich meine Ruhe.» Der Fischer Chamseddine Marzoug legt sich auf ein Grab mit Rosen und Nelken aus Plastik und mit einer Inschrift, der einzigen auf dieser gottverlassenen Halde im Süden Tunesiens: Rose-Marie, Nigeria, gest. 25. 5. 2017. Mit 28 sei Rose-Maria ertrunken, das Leben noch vor sich, ein Jammer, sagt Marzoug. Den Namen der Frau kennt er, weil ihr Mann das Bootsunglück überlebt hat.
Der Menschenfischer
Vor zwanzig Jahren war es, als sich Leichenteile in seinen Netzen verfingen, mal ein Arm, dann ein Stück Bein oder ein Kopf, auch Kleider und Puppen waren dabei, Habseligkeiten von Migranten, die auf maroden Schiffen von Tunesien nach Europa fliehen wollten, die kenterten, ertranken und vom Meer an die Küste zurückgeschwemmt wurden.
Als das Meer, das Marzoug einst so liebte und heute verflucht, immer mehr zum Friedhof wurde, begann er, die Toten in Säcke zu packen, er hievte sie auf einen Pickup, fuhr in die Wüste hinaus, schaufelte Mulden zwei Meter in die Tiefe, er legte die Leichen hinein und schmückte die Gräber mit Engeln aus weissem Porzellan. Am Eingang stellte er eine Tafel auf, darauf steht geschrieben: «Friedhof der Unbekannten».
400 Leichen liegen an diesem Ort begraben, immer zwei übereinander. Bis heute werden sie hier bestattet, jeder ein Mensch, doch verloren und vergessen. So jedenfalls berichtet es Chamseddine Marzoug, der Fischer, der zum Totengräber wurde. Und tatsächlich werden es immer mehr. Allein in diesem Jahr sind bisher fast 1900 Menschen auf ihrer Flucht übers Mittelmeer gestorben, seit 2014 sind es 27500. Viele versuchen, von Zarzis über Lampedusa die italienische Küste zu erreichen.
Ende des Tourismus
Die tunesische Hafenstadt unweit der libyschen Grenze und Heimat von Chamseddine Marzoug galt einst als der «kleine Smaragd» Tunesiens. Jetzt aber gammeln die Resorts vor sich hin, und tote Schildkröten liegen mit aufgeblähten Bäuchen zwischen PET-Flaschen und Bierdosen am Strand. Nicht bloss islamistische Attentate setzten der Tourismusbranche arg zu, sondern auch Berichte über Leichen, die in Küstennähe im Wasser treiben, oder über gewalttätige und kriminelle Migranten aus Subsahara-Afrika. So zuletzt im Juni, als in der Industriestadt Sfax ein Tunesier von drei Kamerunern erstochen wurde. Der Mob holte daraufhin Migranten aus ihren Wohnungen und jagte sie durch die Strassen. Wenig später wurden Hunderte von ihnen in der Wüste ausgesetzt – was in den internationalen Medien für Empörung sorgte und den tunesischen Präsidenten Kais Saied in die Bredouille brachte. Der hatte nämlich schon im Februar eine Rede gehalten, in der er «Horden von Migranten» heraufbeschwor, die über sein Land hereinbrechen und die arabisch-muslimische Identität Tunesiens untergraben würden. Inzwischen beteuert Saied, seine Rede sei missverstanden worden. Was wohl auch mit dem EU-Abkommen zu tun hat, welches Tunesien 900 Millionen Euro in Aussicht stellt – so insbesondere für die effiziente Begrenzung der Migration.
Unzufrieden über die negative Berichterstattung ist auch Mekki Laraiedh, Bürgermeister von Zarzis. So stimme es nicht, dass Tunesiens Migrationspolitik durchs Band rassistisch sei. Seine Stadt zum Beispiel, Zarzis, tue alles, um die Würde der Geflüchteten zu wahren, ob im Leben oder im Tod, teilt Laraiedh per E-Mail mit. Vor allem im Tod. Denn das mit den Leichen sei so eine Sache, da würden viele Halbwahrheiten in die Welt gesetzt, meint Laraiedh.
Friedhof der Unbekannten
Und er kommt auf Zarzis’ berühmtesten Totengräber zu reden, Chamseddine Marzoug. Die Medien hätten ihn über die Jahre zum Helden stilisiert, und Marzoug gefalle sich in dieser Rolle, würde mit viel Pathos von «seinem» Friedhof reden und davon, wie er sich, gegen den Widerstand der Behörden, als Rinziger um die toten Migranten kümmere, und so fort. Alles erfunden, so der Bürgermeister. Der «Friedhof der Unbekannten» sei nicht Marzougs Friedhof, die Stadt habe das Grundstück ausserhalb von Zarzis erworben. Auch stimme nicht, dass Marzoug die Toten eigenhändig aus dem Meer fische. Vielmehr habe alles seinen exakt geregelten Ablauf: Die Feuerwehrleute von Zarzis bergen die Leichen und bringen sie für einen Totenschein ins städtische Krankenhaus, dann werden sie von Freiwilligen des Roten Halbmondes auf den Friedhof gebracht. Marzoug sei nur einer von vielen, die helfen, aber der Einzige, der lauthals darüber rede.
Chamseddine Marzoug. | Foto: Klaus Petrus
Es gibt Geschichten, die sind offenbar stärker als die Wirklichkeit. Chamseddine Marzoug schläft viel in diesen Tagen, ausgestreckt auf seinem Sofa, in eine Decke aus Kamelhaar gehüllt. Die Wohnung ist überstellt, eine Katze sammelt ihre Jungen ein, auf dem Boden liegen Bierdosen und auf dem Tisch Schachteln mit Medikamenten. Der Fischer, der schon lange nicht mehr draussen auf dem Meer war, hat Leberkrebs im fortgeschrittenen Stadium. «Ein paar Monate habe ich noch», sagt der 60-Jährige, «höchstens ein Jahr.» Und er fährt fort: «Wenn wir Glück haben, erwartet uns das Paradies. Und wenn nicht? Hauptsache, wir bewahren das Menschliche in uns, erschaffen das Paradies auf Erden hier und jetzt, indem wir miteinander reden, uns zuhören, indem wir lachen und weinen und trinken.» Und Marzoug erzählt von seiner Frau und den beiden Söhnen, die eines nachts selber in ein Boot stiegen und übers Meer setzten nach Italien. Kein Sterbenswort hätten sie zu ihm gesagt. «Sie wussten, ich würde es ihnen verbieten, zu viele Leichen habe ich gesehen in diesem vor Wut schäumenden Meer.»Und so sei er allein geblieben mit den Toten, ein Vergessener unter all den Vergessenen.
Chamseddine Marzoug atmet tief ein und klingt dabei so, also hätte er auch diese Geschichte schon viele Male erzählt.
Der alte Fischer und sein Friedhof