Den Tag bereits am Morgen loben
Vielleicht kennen Sie das Sprichwort, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Natürlich spricht aus dieser Weisheit zentnerschwere Erfahrung. Mach Dir keine Illusionen! Setz nicht alles auf eine Karte, wenn der Ausgang ungewiss ist! Stürz Dich nicht gedankenlos in Abenteuer! Spar Dir die grossen Worte auf den Zeitpunkt, wo die Arbeit beendet und das Projekt erfolgreich abgeschlossen ist!
Aber so ganz mag mir der Grundton nicht gefallen. Ist das Leben so berechenbar? Vielleicht nicht gerade ein dickes Lob, aber ein paar Vorschusslorbeeren tun den meisten Tagen - und noch vielmehr den Menschen, denen ich begegnen werde - gut. Ein positiver Blick auf den Tag macht den Tag zu einem anderen als ein negativer Blick. Sind Vorschusslorbeeren Zweckoptimismus? Positives Denken, dass manchmal irgendwie oberflächlich und anstrengend und langweilig daherkommt?
Der Anstoss zu meinen Gedanken stammt aus einem Gedicht. Sinngemäss heisst es da: Sing am Morgen der Sonne ein Lied, auch wenn es Nebel hat oder regnet. Nimm die ersten Worte des Tages aus den Psalmen, bevor Du viele Worte machen wirst oder willst oder musst. Dann erst widme Dich den Nachrichten und der Zeitung, und dem Handy. Der darauf folgende Satz gefällt mir am besten: »Beachte die Reihenfolge, wenn du die Kraft behalten willst, die Verhältnisse zu ändern« (ganzes Gedicht: »Rat«, von M.Wilhelm Bruners).
Das Gedicht rät also: Den Tag bereits am Morgen loben und ein Lied singen, ein Gedicht lesen, sich ausrichten auf etwas, das grösser ist als ich. Dann: Ein Wort aus dem biblischen Buch der Psalmen lesen. Ein Wort aus denjenigen alten Gebeten also, die vom Staunen über den Morgenhimmel und dem Geniessen der Stille vor einem hektischen Tag - hin zur Dankbarkeit - und über die Sehnsucht nach Sinn und Begleitung - bis zu Klage und Zorn das ganze Leben umfassen und alles mit Gott in Beziehung bringen wollen. Gib genau dem Raum, meint dieser »Rat«: Dem Schönen, in das Du eingebettet bis. Auch all den Stimmungen, die Dir anhaften. Den Worten der Dankbarkeit, den Worten die trösten, den Worten, die segnen. Dich und die Menschen, denen Du heute begegnest. Dann erst - stürz Dich ins Tagesgeschäft und lass die Welt auf Dich einprasseln. Und sieh zu, dass Du aus dem - auch noch so klitzekleinen - Innehalten am Morgen etwas mitnehmen und bei Dir behalten kannst, damit Du im Alltag nicht untergehst. Ein Lob, das grösser ist als Du. Ein kleines Aufatmen. Einen Sonnenvers. Ein gutes Wort für jemanden. Dann, meint der Dichter, wirst Du da und dort etwas Gutes bewirken oder etwas verändern können.
So gesehen kann und soll man den Tag bereits am Morgen loben und ihm ein paar Vorschusslorbeeren angedeihen lassen. Was einem ja in keinster Weise daran hindern muss, ihn sehr realistisch anzugehen. Dies ist vielleicht ein etwas anderer Realismus, als der, der am Anfang zitiert wurde. Und: In der umgekehrten Reihenfolge lässt sich der Tag auch verabschieden.
In dem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie den Tag bereits am Morgen loben und in den alltäglichen Unwägbarkeiten mit einem freundlichen Blick betrachten mögen. Und ihn am Abend dann vielleicht mit einem Seufzen, aber auch mit Dank verabschieden und hinter sich lassen können.
Den Tag bereits am Morgen loben