Das Tafel-Prinzip: Lebensmittel retten und Menschen unterstützen
«Gipfeli? Weggli? Was hättest du gerne?» – «Tomaten? – Kleine? Grosse?» – «Salatsosse oder Cola?» Sechs freiwillige Markthändlerinnen stehen hinter den kreisförmig angeordneten Tischen, die mit bunten Lebensmitteln gedeckt sind. Jeden Freitagnachmittag verwandelt sich der Kindergarten der Baselbieter Gemeinde Sissach nämlich in einen Wochenmarkt. Edith S. preist Jogurt, Milchreis und Hafermilch an, während Elisabeth M. Lauch und Fenchel verteilt.
«Nummer sechzehn!», ruft Hubert R. in den Vorraum, als die Frau mit ihrem Essen und ihren Blumen in den Herbst hinausgeht. Hubert R. verabschiedet sie mit Namen und grüsst den jungen Mann, der genau auf diese Zahl gewartet hat. Er betritt den Raum mit einer leeren Migros-Einkaufstasche. Langsamen Schritts läuft er die Stände im Uhrzeigersinn ab.
Gegen die Verschwendung und für die Menschen
Was aussieht und sich anhört wie ein gewöhnlicher «Märit», ist in Wahrheit alles andere als gewöhnlich. Es ist die Sissacher Tafel, die jeden Freitagnachmittag stattfindet. Berechtigte Bezügerinnen und Bezüger erhalten hier für einen Unkostenbeitrag von einem Franken Lebensmittel.
Die Sissacher Tafel wurde 2019 von Pfarrer Gerd Sundermann in Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst ins Leben gerufen. «Mein Hauptanliegen war damals, Lebensmittel zu erhalten, die sonst in der Tonne landen würden», erklärt er seine Motivation. Jedes Jahr fallen in der Schweiz rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittelverluste an. Dazu gehören auch aussortierte unförmige Früchte oder frische Brote, die am zweiten Tag nicht mehr verkauft werden. Nach Gesprächen mit den Behörden entschied er sich schliesslich, das Pilotprojekt Tafel zu lancieren. Am ersten Tag erschienen sieben Leute. Heute sind es zuweilen über hundert.
Die Tafel ist keine Selbstverständlichkeit. 17 freiwillige Mitarbeitende wirken jede Woche mit, stellen die Tische auf, prüfen das Ablaufdatum auf Fleisch- und Milchprodukten und vergeben die Lebensmittel an die Bezügerinnen. Der Freitag kann von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends dauern.
Die Tafel ist heute ein Zusammenspiel aus dem Erhalt von Lebensmitteln und deren Abgabe an Bedürftige. Das Essen wird sowohl von lokalen Bäckereien, Metzgereien und Bio-Bauernhöfen gespendet als auch von Migros und Coop. 63 Kisten Ware werden an diesem Freitag geliefert. «Die Menschen, die zu uns kommen, sind Part of the Game», betont Sundermann. «Sie helfen uns, gute Lebensmittel zu verwerten.»
Abwarten und Tee trinken
Es ist 12.30 Uhr und im Gebäude nebenan trudeln schon die ersten Bezügerinnen ein. Ursi P. hat dort den Empfang eingerichtet. Ein Holztisch, darauf eine Namenstabelle, ein Korb mit Zetteln und eine kleine Kasse für den Franken. Sie grüsst die Bezüger, wirft einen Blick auf die orangen Ausweise, die sie ihr hinhalten, und streicht die Namen auf der Liste durch.
Alle Bezügerinnen erhalten einen Ausweis mit Namen und Foto. So stellen die Organisatoren sicher, dass das Essen an jene Menschen geht, die es am dringendsten brauchen. In der Regel stellt das Sozialamt die Ausweise aus, aber in besonderen Fällen vergibt sie auch Sundermann. «Manche Menschen verdienen zu viel, um vom Sozialamt unterstützt zu werden», sagt er. «Sie zahlen alle Rechnungen selbst und schaffen es kaum durch den Monat. Einmal weniger einkaufen zu müssen, ist für sie eine grosse Entlastung.»
Ursi P. hält einer Frau den Korb mit den Papierzetteln hin. «Abrakadabra», ruft sie fröhlich, während die Frau einen Zettel zieht. Eine Zwölf! Ursi P. lacht. «Siehst du, mein Zauber wirkt!» Die Nummer auf dem Zettel gibt vor, in welcher Reihenfolge die Leute ihr Essen holen können. Immer vier dürfen gleichzeitig zu Edith S. und ihrem Team, um sich Gemüse, Früchte und Brot auszusuchen. Die nächste Frau hat weniger Glück. Auf ihrem Zettel prangt eine 60. Ursi P. verwirft die Arme. «Oje. Dann trinkst du eben ein bisschen Tee, bis du dran bist.»
So geht es weiter, das kleine Lottospiel vor der Tafel. Ein Mann mit der Nummer 53 mag nicht warten und geht stattdessen wieder nach Hause. Manche Leute versuchen, Ursi P. zu überreden, ihnen eine tiefere Nummer zu geben. Aber Ursi P. hat früher als Lehrerin gearbeitet. Das hier, sagt sie, sei kaum anders.
Arm in einem reichen Land
Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Dass hier jemand verhungert, kann man fast kategorisch ausschliessen. Braucht es da wirklich so etwas wie eine Tafel? «Wenn Sie durch die Strassen von Sissach spazieren, werden Ihnen keine Armen auffallen», sagt auch Gerd Sundermann. «Aber das bedeutet nicht, dass es hier keine bedürftigen Menschen gibt.»
2021 waren in der Schweiz rund 745‘000 Menschen von Armut betroffen, darunter 157‘000 Menschen, die zwar arbeiten, aber zu den sogenannten Working Poor gehören. Ursi P. erinnert sich an eine Frau, die in der Mitte des Monats noch genau fünf Franken übrig hatte. Gerd Sundermann erreichen immer wieder solche Fälle. «Die Tafel ist ein guter Parameter, um zu erwägen, wie dringend die Menschen wirklich Unterstützung brauchen», sagt er. «Wenn mich jemand um Geld bittet und am Freitag zur Tafel kommt, weiss ich, dass es der Person ernst ist.»
Seit 2022 bieten die Organisatorinnen der Sissacher Tafel zusätzlich eine Tafel für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer an. «Für diese Menschen ist die Tafel vor allem auch ein Treffpunkt», sagt Gerd Sundermann. In der Fremde können sie hier ihre Sprache sprechen, einen Kaffee trinken und den Kindern gemeinsam beim Spielen zuschauen. «Es braucht die Tafel vielleicht nicht», sagt Sundermann. «Aber es ist gut, dass es sie gibt.»
Das Tafel-Prinzip: Lebensmittel retten und Menschen unterstützen