Darf man das?
«Nimm und Lies», so heissen die Flyer der Schweizerischen Traktatmission, die noch heute herausgegeben werden. Es gab sie schon damals, vor 65 Jahren, als ich noch ein Knirps war. Ja, damals, jeweils nach der Sonntagschule, bekamen wir eifrigen Kinder Traktate in die Hand gedrückt. Begeistert rannten wir damit zur Conditorei Lutz, denn Frau Lutz konnte ja nicht in den Gottesdienst kommen, da sie ihre Kundschaft bedienen musste. Der erste, der im «gluschtigen» Laden ankam, wurde von Frau Lutz mit einer leckeren Süssigkeit fürs Bringen des Traktats belohnt. Nein, ums Traktat, um dessen Frohe Botschaft, gings uns damals nicht – es waren die Crèmeschnitten, die uns näher lagen.
Und heute? Vor mir liegt ein Traktat, achtseitig, vorne eine Türe, durch die blendendes Licht strahlt, auf der Rückseite ein Grabstein mit der Aufschrift «Philippe Decourroux, Schweizer Musiker 1960 - …». Decourroux, der Name des Verfassers dieser kleinen Schrift mit dem Titel «WENN ICH MORGEN STERBEN WÜRDE…». Soll ich dieses Traktat weitergeben? Darf man das? Die Begeisterung meiner Kinderzeit ist ins Stocken geraten. Dieser Titel schockt doch den Empfänger, konfrontiert ihn aus heiterem Himmel mit dem Tod und dem Danach! Und ich lese darin: «Leider bin ich mir ganz sicher: Wir kommen nicht alle ins Paradies!» Darf ich das weitergeben? Oder muss ich sogar, aus Sorge und Liebe zu meinen Mitmenschen? Das Traktat ist liebevoll geschrieben, wohltuend farbig, in der Aussage jedoch kompromisslos, kein laues Weder-Noch.
In meiner Unsicherheit halfen mir Aussagen des Theologen Andreas Jäger: ‘Höllenfeuer-Predigten’ seien zu einseitig, Evangelium heisse ‘Gute Nachricht’. Bei Krankheiten und am Sterbebett komme aber die Frage ‘Gibt es doch noch mehr?’ Menschen hätten Angst, ob sie vor Gott genug geleistet hätten. Wir drohen nicht, wir bitten: Lasst euch versöhnen mit Gott - und der Physiker Dr. Albrecht Kellner schreibt: «Wenn Jesus heute noch leiblich hier wäre, hätte er nur eine Botschaft: ‘Lasst euch retten! Ich (Jesus) habe doch alles bezahlt’. Er ist aber nicht mehr da, aber die Christen sind es noch und sollen diese Aufgabe übernehmen.»
Auch am diesjährigen Kirchentag Züri Oberland in Wetzikon stand die Frage zur Diskussion, ob man das Thema Tod aufgreifen wolle. Pfr. Daniel Stoller-Schai setzte sich dafür ein, denn der Tod bewege die Menschen. So ist mir allmählich klar geworden, dass das Weitergeben von Decourroux’ Booklet keine «Mission Impossible» (unmögliche Aktion) ist; in Liebe und Sorge um meine Mitmenschen, mit Bedacht und im Bewusstsein, dass auch ich die Vergebung täglich nötig habe, darf ich es tun.
Darf man das?