News von der Glarner reformierten Landeskirche

Danke, kleiner Vogel

von Pfarrer Daniel Zubler
min
25.08.2024
Wenn der Lärm der Welt zu gross wird, wächst der Wunsch nach Stille. Pfarrer Daniel Zubler, ein sonst geselliger Mensch, meldet sich für eine Schweige-Wochenmeditation im Tessin an. Ein Plätzchen am Bach lässt ihn das Leben neu betrachten, und er wird mit einer wundersamen Begegnung beschenkt.

Vor etlichen Jahren war es mein Wunsch, mein Verlangen nach Stille zu stillen. Das Pfarramt wurde immer lauter. Eine unruhige Taubheit nistete sich in mir ein. Deshalb meldete ich mich zu einer Schweige-Wochenmeditation bzw. einer «Stillezeit» im Tessin an. Dort angekommen, wurden beim Mittagessen die «Stilleregeln» bekannt gegeben. Tatsächlich war über den ganzen Tag Schweigen geboten. Nur einzelne, vorgegebene Gesprächsmomente blieben an wenigen Fixpunkten des Tages ausgespart. Mutig, dachte ich so bei mir. Mutig, dass du dich für eine solch seltsame Idee angemeldet hast, der du doch sonst ein geselliger Mensch bist.

Da schönes Wetter seine gute Laune mit weiten Armen ausbreitete, hatten wir Gelegenheit, auch draussen zu meditieren. Jede und jeder durfte sich in der Umgebung sein eigenes kleines Plätzchen aussuchen und mit Wolldecke und Meditationskissen freundlich einrichten. Ich suchte mir einen Ort an einem kleinen Nebenbach der Verzasca auf einem Felsvorsprung, wo ich dem Bach zuschauen konnte, wie er an mir vorbei in Richtung Verzasca und seiner Bestimmung folgend, weiterfliessend den Weg ins Meer finden würde. Wobei fliessen, den Wasserlauf nicht so richtig beschreibt. Es war eher ein lebendiges Hüpfen, Springen und Spritzen. Steine und Wurzeln umsprudelnd. Kleine Diamanten, die durch die Luft wirbelten und sich im Wasser wieder zu einem Ganzen vereinigten. Die frische Luft einzuatmen, wirkte belebend, wie ein auserlesenes Parfum der Natur, das sich grosszügig verschenkte.

Lange, ruhig sitzend, atmete ich so die freie Natur in mich hinein, beobachtete den Bach, wie er sich an mir vorbeischlängelte und ich sinnierte, dass dieser Bach ein Sinnbild für mein Leben sein könnte. Nicht regelmässig langsam fliessend wie ein breiter Fluss, sondern immer wieder mal ein Stein im Weg, eine Wurzel, die sich querstellt und das Wasser zwingt, einen leicht anderen Weg einzuschlagen. Aber alles in allem mein Gedanke: Das Wasser fliesst immer nur in eine Richtung. Mit jeder Minute, jeder Sekunde entfernt es sich von dir. Leben vergeht. Ja, das ist wohl die grosse Einsicht dieser Meditation.

Ich blieb eine Weile an diesem Gedanken hängen, bis ich bemerkte, dass sich hinter mir etwas bewegte. Auf und ab flatterte. Ein kleiner bunter Vogel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich drehte mich auf meinem Kissen, um ihn in meiner Blickrichtung zu haben und schaute ihm in seine kleinen, kugelig-verspielten, fröhlichen, dunklen Augen. Dieser regenbogenfarbene Winzling war mir sofort auf unerklärliche Weise vertraut. Ohne Worte fragte er mich: «Darf ich?» Und ohne zu wissen, worum er bat, antwortete auch ich wortlos: «Ich bitte darum.» Und darauf folgte ein wundersamer Vogelseiltanz. Er flatterte und hüpfte auf einem Sonnenstrahl. Wie macht er das nur, dachte ich? Und jetzt, jetzt setzt er sich sogar auf den goldenen, von der Sonne ausgehenden Lichtstrahl. Das ist doch unmöglich, geht doch gar nicht, dachte ich bei mir. Und während dieses Schauspiels bewegte sich auch der Sonnenstrahl. So ähnlich wie bei einer Sonnenuhr. Der Strahl zeigte direkt auf mein Herz und in diesem Moment breitete der kleine, gefiederte, bunte Freund seine Flügelchen aus und flog in Richtung Ursprung, Quelle des Bachs. Ich schaute ihm gedankenversunken nach und erkannte, dass der Bach nicht von mir weg, sondern auf mich zufloss. Danke kleiner Vogel!

Text: Daniel Zubler, «Denkpause» in den Glarner Nachrichten, 24. August 2024

Bild. Swantje Kammerecker

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