Braucht die Kirche eine Frauenquote?
50 Jahre Frauenstimmrecht. Gabriela Allemann, was bedeutet dies für Sie?
1971 war meine Mutter knapp 21 Jahre alt. Das Stimmrecht war ihr damals noch verwehrt. Für mich ist es heute selbstverständlich, dass ich abstimmen und wählen kann. Von daher ist der 7. Februar 1971 für mich ein wichtiger, ein freudiger, Tag, auch wenn es beschämend ist, dass es so lange dauerte. 50 Jahre Frauenstimmrecht bedeutet auch, sich bewusst zu werden, wo heute eingestanden werden muss für Menschen, denen die Stimme verwehrt wird. Zurückblicken, die Gegenwart analysieren und die Zukunft gestalten – das gehört zusammen.
Engagierte sich Ihre Mutter im Abstimmungskampf?
Nein, für meine Mutter waren die Gleichstellungsfragen zunächst kein Thema, das kam später.
Hatten Sie weibliche Vorbilder?
Als Kind meine Mutter, die eine klassische Frauenrolle lebte. Später imponierte mir eine meiner Lehrerinnen und als Jugendliche starke Politikerinnen und Schriftstellerinnen. Aber Vorbilder im Sinne «genau so möchte ich auch leben und sein» hatte ich keine.
Wurde Ihr Bruder anders erzogen, musste er im Haushalt mithelfen?
Nein, da gab es keine Unterschiede. Wir halfen beide mit im Haushalt und hatten das gleiche Spielzeug-Angebot, was für damalige Zeit schon besonders war.
Wie sieht dies bei Ihren zwei Töchtern aus?
Unseren Töchtern wird langsam bewusst, dass für ihr Geschlecht nicht alles so selbstverständlich war und ist und Frauen sich vieles erkämpfen mussten. Am 7. Februar haben wir gemeinsam auf das Frauenstimmrecht angestossen!
Gabriela Allemann, Sie sind Pfarrerin. In Sachen Frauenstimmrecht war die reformierte Kirche Pionierin. Etliche Kirchgemeinden kannten das Frauenstimmrecht schon Jahrzehnte vor dem Staat.
Richtig. Für eine Institution, die über Jahrhunderte predigte, die Frau schweige in der Gemeinde, ist dies beachtlich. Diese Vorreiterrolle der Kirche hat jedoch etwas Ambivalentes: Man ermächtigte die Frauen schon früh, ihre Stimme zu erheben, aber nur in den gesellschaftlichen Bereichen Kirche, Kinder und Wohltätigkeit. Bei anderen Themen waren Frauen lange nicht gefragt.
Heute stehen an der Spitze der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz erstmals zwei Frauen: Als Präsidentin Rita Famos und als Synodepräsidentin Evelyn Borer. Hat man damit das Ziel erreicht?
Ich finde es bezeichnend, dass man jetzt so stark betont, dass Frauen die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz präsidieren. Das zeigt, die Gleichberechtigung ist noch lange keine Selbstverständlichkeit. Gerade weil es aussergewöhnlich ist, müssen sich Frauen in solchen Positionen nach wie vor stärker beweisen als Männer und stehen unter einem starken Druck. Ausserdem aufgepasst: Die Geschichte lehrt, wie rasch sich solche Machverhältnisse wieder verschieben können.
Heute prägen Pfarrerinnen und Präsidentinnen die Kirche. Hat sich die Kirche dadurch verändert?
Ja, die reformierte Kirche ist diverser und vielfältiger geworden. Die verschiedenen Lebensentwürfe, die heute eine Kirche prägen, tragen zum Reichtum des Lebens in den Gemeinden bei.
Und thematisch?
Nein, die Kirche ist durch die Frauen nicht emotionaler und «softer» geworden. Ich lehne solche Geschlechterstereotypen ab. Eigenschaften sind nicht an ein Geschlecht gebunden.
Der Herr Pfarrer ist heute vom Sockel gestiegen. Hat dieser Imageverlust auch damit zu tun, dass vermehrt Frauen im Pfarramt sind?
Zur Bedeutungsveränderung des Pfarrberufes – und der Kirche ganz allgemein - haben verschiedene Faktoren wie der gesellschaftliche Wandel und die Säkularisierung beigetragen. Ausserdem entspricht das heutige Bild der Pfarrperson, die nicht mehr Definitionsmacht hat als jede andere Person der Gemeinde, eher der reformierten Forderung des Priestertums aller Gläubigen.
Braucht es in der Kirche eine Frauenquote?
In der reformierten Kirche braucht es diese Quote nicht – mehr –, aber ein starkes Bewusstsein dafür, wo welches Geschlecht vertreten ist.
Braucht die Gesellschaft die Frauenquote?
Ja, in gewissen Bereichen auf jeden Fall, gerade in den Verwaltungsräten braucht es mehr Frauen.
Stichwort Verwaltungsrat. Bei der Frauenquote denkt man als erstes an die Teppichetagen. Kaum jemand spricht von den Frauen in der Pflege und im Verkauf. Ist dies nicht störend?
Natürlich. Es ist ein grosses Problem, dass viele Frauen in schlecht bezahlten Berufen arbeiten, die wenig Prestige haben. Die Corona-Zeit zeigt, wie systemrelevant diese Arbeit ist und wie sie unser Leben am Laufen hält.
Der Wert der Care-Arbeit, der Pflegearbeit, wird bis heute in der Schweiz unterschätzt. Braucht es da eine Änderung?
Absolut. Auch die Evangelischen Frauen Schweiz fordern Massnahmen, damit die Care-Arbeit mehr wertgeschätzt wird, sei es die bezahlte oder unbezahlte. Bis heute wird die Arbeit von Müttern – und Vätern –, die den Haushalt führen, die Kinder betreuen und für die betagten Eltern sorgen, nicht anerkannt. Diese Eltern leisten viel, ohne je einen Franken zu sehen. Die Care-Arbeit muss zwingend aufgewertet werden. Es kann ja nicht sein, dass die Erwerbsarbeit ständig zunimmt und daneben bleibt immer weniger Zeit für die Care- und Freiwilligenarbeit. Viele Verbände, Vereine und nicht zuletzt die Kirchen sind damit konfrontiert, dass sie keine Leute mehr finden, die sich ehrenamtlich engagieren, da sie sich dies heute nicht mehr leisten können. Bei etlichen Paaren arbeiten beide hochprozentig, da ein Lohn nicht reicht.
Was unterscheidet die heutige Generation der Frauen und Feministinnen von der, die 1971 das Frauenstimmrecht erkämpft hat?
Wir können heute auf den Schultern der Frauen stehen, die damals dieses Recht erkämpft haben. Das war eine grosse Errungenschaft, diesen Kampf sollte man nicht unterschätzen. Heute ist vieles gegeben, Mann und Frau haben auf dem Papier die gleichen Rechte. Es gibt heute Frauen, die meinen, wir hätten bereits alles erreicht. Vielen wird dann im Laufe des Lebens bewusst, dass dem eben doch nicht so ist.
Und in Bezug auf die Feministinnen?
Wir stellen fest, dass sich im Bewusstsein und im Alltag noch etliches nicht verändert hat, selbst wenn Mann und Frau heute formal gleichgestellt sind. Heute finden die Feministinnen in der Gesellschaft mehr Verbündete, auch unter den Männern. Vor 50 Jahren mussten sie viel mehr einstecken, da die Männer es nicht wagten oder sich leisten konnten, mit den Bestrebungen der Frauen zu sympathisieren. Heute stellen Männer fest, dass das Patriarchat auch sie einschränkt in ihren Möglichkeiten und viele wollen mit den Frauen verstärkt gemeinsam unterwegs sein.
Haben die Männer die Macht schon abgegeben?
Schwierige Frage. Zurzeit befinden wir uns in der Situation, dass Männer und Frauen aushandeln, wer welche Macht bekommt. Wir befinden uns mitten in diesem Prozess. Die Theologin Ina Praetorius spricht von einem postpatriarchalen Durcheinander, Es ist eine Umbruchzeit, mit entsprechenden Reaktionen. Ich denke an die Erstürmung des Capitols in den USA oder das Aufkommen der AfD in Deutschland: Diese Bewegungen eint ein ausgeprägter Anti-Feminismus.
Der postpatriarchale Machtkampf scheint bei Ihnen zu Hause beigelegt. Sie und Ihr Mann teilen sich die Hausarbeit.
Das funktioniert sehr gut. Mir war immer bewusst, dass ich weiter erwerbstätig sein möchte, dass ich mit einem Mann zusammen sein möchte, der Kinder will und für die Kinder auch da sein will. Vor der Geburt der Töchter haben wir dies besprochen und entsprechend nach Stellen gesucht. Es ist ein Glück, dass alles geklappt hat, und auch ein gewisser Luxus, dass es finanziell möglich ist. Natürlich gibt es da und dort kleine Reibereien, aber das gehört auch dazu.
Was raten Sie Frauen, die sich mit ihrem Mann den Haushalt teilen möchten?
Klar kommunizieren, sich absprechen und sich überlegen, was brauche ich, und möglichst authentisch sein. Und dann sollte man auch einen Fünfer mal gerade sein lassen. Das ist enorm wichtig.
Wie meinen Sie das?
Viele Frauen glauben, dass einzig Mütter den Haushalt im Griff haben und die Kinder betreuen können. Frauen sollten sich von solchen Vorstellungen lösen und den Männern zumuten, dass sie ebenso fähig sind.
Und was raten Sie Männern?
Auch, dass sie sich bewusst machen, was sie wollen. Männer sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Beziehung zu den Kindern von klein auf aufgebaut und gepflegt werden muss und dass diese Arbeit genauso wichtig ist wie eine Karriere. Es gibt den Kindern und den Eltern ausserdem viel, wenn sie mehr als nur eine Bezugsperson haben.
Die Evangelischen Frauen Schweiz haben dazu aufgerufen, dass Frauen am 1. August auf die Kanzel steigen. Über was würden Sie am Nationalfeiertag reden?
Ich hätte Lust, über das Gebot im Korintherbrief, dass die Frau in der Gemeinde zu schweigen habe, zu sprechen.
Warum forderte Paulus oder wie manche Forscher meinen, ein späterer Autor, dass Frauen schweigen sollen?
Schon vor bald 2000 Jahren gab es Frauen, die sich in der Öffentlichkeit äusserten, predigten und in Zungen redeten, und dies in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft. Im Zuge der wachsenden Regulierung und Institutionalisierung der ersten christlichen Gemeinden wollte man diese Aufbrüche zurückbinden und den freien Geist wieder in Bahnen lenken – die Gleichheit aller Christenmenschen, welche im Galaterbrief postuliert wurde, war wohl doch zu radikal
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online
Braucht die Kirche eine Frauenquote?