«Bis zuletzt dachte ich, sie wollen mir einfach nur Angst einjagen»
Sie sind mit dem Prix Courage des «Beobachters» ausgezeichnet worden. Was finden Sie mutig?
Natallia Hersche: Mutig ist, wenn man sich getraut, etwas zu äussern, das nicht der Meinung der Mehrheit oder der Machthaber entspricht. Ich habe mich noch nie gefühlt, als ob ich der Mehrheit angehöre.
Sind Sie in allen Lebensbereichen mutig?
Nein, ich kann auch ängstlich, leise oder schüchtern sein. Wenn es um Herzensangelegenheiten geht, stehe ich jedoch für meine Anliegen und Ideale ein.
Woher haben Sie Ihre Courage?
Ich habe kein bestimmtes Vorbild. Ich wehre mich für das belarussische Volk, das schon seit Jahrhunderten unterdrückt wird. Früher von den Zaren, später von den Kommunisten, die versuchten, unsere Kultur und Sprache und damit unsere Identität zu vernichten. Erfreulicherweise kommt es wieder öfter vor, dass die Leute, speziell hochgebildete, gezielt Belarussisch sprechen.
Von Belarus an den Bodensee
Die belarussisch-schweizerische Doppelbürgerin Natallia Hersche wurde 1969 in Belarus geboren. Die Ökonomin kam mit ihren beiden Kindern 2007 nach Appenzell, wo sie in zweiter Ehe einen Ostschweizer heiratete und sich in einer Brauerei von der Reinigungskraft zur Laborantin hocharbeitete. Nach der manipulierten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukaschenko reiste sie 2020 nach Minsk und nahm an den Demonstrationen teil. Dort wurde sie festgenommen und zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach anderthalb Jahren kam sie frei und wurde nach ihrer Rückkehr mit dem Prix Courage des «Beobachters» ausgezeichnet. Nach dem Tod ihres Ehemannes lebt sie heute mit ihrem Freund am Bodensee. (rh)
Brauchte es auch Mut, Ihrer Heimat den Rücken zu kehren?
Für mich war es die einzige Möglichkeit, etwas für mich und meine zwei Kinder zu tun. Denn ich hielt es in Belarus nicht mehr aus, da sich überhaupt nichts veränderte.
Engagierten Sie sich schon so, dass Sie sich nicht mehr sicher fühlten?
Nein, ich beobachtete, wie die Bevölkerung auf die Entscheidungen des Regimes reagierte, und habe den Verlust von jeglicher Demokratie bemerkt, war aber nicht politisch aktiv.
Woher nahmen Sie 2020 den Mut, an den Demonstrationen in Minsk teilzunehmen?
Ich weiss nicht, ob es Mut war oder Trotz. Aber es war schon immer so, dass ich mich nicht verbiegen lassen wollte, wenn mir etwas nicht passte. Freiheit ist mir sehr wichtig. Und Ehrlichkeit. Denn sie ist die Basis aller Beziehungen. Deswegen war ich empört, als ich die einmal mehr manipulierten Ergebnisse der Präsidentschaftswahl hörte, und freute mich, als nicht nur Einzelne, sondern viele Menschen auf die Strasse gingen. Ich fühlte mich verpflichtet, mit ihnen zu protestieren.
Hatten Sie keine Angst?
Natürlich war das Risiko, verhaftet zu werden, da, aber die maximale Haftstrafe wäre 15 Tage gewesen, und die war ich bereit zu ertragen. Ich hatte nicht damit gerechnet, so lange eingesperrt zu werden. Bis zuletzt dachte ich, sie wollen mir einfach nur Angst einjagen. Sogar, nachdem ich zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden war und ich weiter im Gefängnis bleiben musste, glaubte ich nicht, dass sie mich tatsächlich so lange festhalten würden. Ich meinte immer wieder Anzeichen für meine Freilassung zu sehen, aber die Hoffnung hat sich immer wieder zerschlagen.
Wie gingen Sie damit um?
Erst nach einem Jahr wurde mir bewusst, dass ich die Strafe wirklich absitzen muss. Ich war dennoch nicht bereit, das mir mehrmals vorgeschlagene Begnadigungsgesuch zu unterschreiben, das zu meiner Freilassung geführt hätte. Da ich mich nur gegen den Polizisten gewehrt, ihn aber nicht tätlich angegriffen hatte, gab es nichts zuzugeben.
Haben Sie sich nie einschüchtern lassen?
Meine Angst gründete vor allem in der Ungewissheit. Nachdem das Gericht das Urteil nicht revidiert hatte, stellte ich in einem Schreiben klar, dass ich jede Lüge und Ungerechtigkeit bekämpfen würde. Ich sei nicht bereit, wie in belarussischen Frauengefängnissen verbreitet, Uniformen für das Regime zu nähen. Man hat mich dann gewarnt, dies sei das Schlimmste, was ein Häftling machen könne, und dass ich dafür mit Kerker bestraft würde.
Was versteht man darunter?
Ich wusste auch nicht genau, was auf mich zukommen würde, aber die Direktion des Frauenarbeitslagers drohte mir mit 80 Tagen Kerker und der stellte sich als Einzelhaft der härtesten Art heraus. Nach 25 Tagen wurde ich immer schwächer und zweifelte, ob ich sie durchhalten könne. Als ich gemäss Reglement nach 30 Tagen in den erleichterten Kerker verlegt wurde, kam der mir paradiesisch vor: Ich hatte Kissen und Decken, durfte lesen und ein paar Lebensmittel kaufen.
Ist Ihre mentale Widerstandskraft sogar gewachsen?
Ja, je härter die Repressionen wurden, desto weniger wollte ich mich ihnen beugen. So dachte ich mir Methoden aus, wie ich die Gefängniswärter ärgern konnte, die uns zweimal pro Tag zwangen, uns mit Verfahrensnummer, Haftlänge usw. zu identifizieren. Dafür buchstabierte ich diesen Rapport extrem langsam, wodurch er sich manchmal bis zu zehn Minuten hinzog. Das hat sie unglaublich genervt!
Wer hat Sie unterstützt?
Mein Freund bekam die Möglichkeit, mich im Lager zu besuchen, da die Behörden hofften, dass er mich dazu bringen würde, das Begnadigungsgesuch zu unterschreiben. Er sagte aber sofort, er wäre nicht hier, um mich zu überreden. Er hätte mich jedoch nur zu gerne mit nach Hause genommen. Ich wollte natürlich auch raus, aber nicht um jeden Preis. Deshalb musste ich mich noch sieben Monate in Geduld üben.
Ihnen soll das Lesen der Bibel und das Beten viel geholfen haben. Stammen Sie aus einer religiösen Familie?
Nein, wir sind nur zu Ostern und Weihnachten in die Kirche gegangen. Trotzdem war ich auf meine Art immer schon sehr gläubig, denke aber, dass der Glaube vielfältiger ist als das, was eine einzige Konfession vermittelt. Gott ist aus meiner Sicht viel mehr, als ein Mensch sich vorstellen kann. Aber klar, der russisch-orthodoxe Glaube steht mir am nächsten, und in der belarussischen Bibel fand ich Stellen, die mich ansprachen und mir Kraft gaben.
Können Sie ein Beispiel machen?
Im 1. Petrusbrief heisst es: «Aber auch, wenn ihr um der Gerechtigkeit willen leiden müsst, seid ihr seligzupreisen. Fürchtet euch nicht vor ihnen und lasst euch nicht erschrecken.»
Wie haben Sie Ihre traumatischen Erfahrungen verarbeitet?
Nach meiner Freilassung war ich sehr euphorisch. Ich hatte bis zuletzt gekämpft, alles schien gut. Nach einem Monat spürte ich jedoch, was mir fehlte. Die Realität war ganz anders, als ich sie mir in der Gefangenschaft vorgestellt hatte. Ich musste damit klarkommen, dass ich keine Vergangenheit mehr hatte. Mein Freund hatte die Wohnung in St. Gallen aus finanziellen Gründen auflösen müssen und zu entscheiden, was er für mich behielt und was er weggab. Dabei gingen viele Wertsachen und Erinnerungsstücke verloren. Noch mehr vermisste ich meine drei Katzen.
Was ist mit ihnen passiert?
Er verschenkte sie, da er sich nicht um sie kümmern konnte, und nur eine davon konnte ich gegen die Bezahlung der angefallenen Kosten zurückkaufen. Noch viel schlimmer war natürlich, dass man mir eineinhalb Jahre meines Lebens gestohlen hat, obwohl ich gegen kein Gesetz verstossen hatte. Ich habe mich inzwischen wieder in der Gesellschaft eingelebt. Es geht mir auch gesundheitlich besser. Die Verarbeitung des Geschehenen wird jedoch noch sehr lange dauern.
Bereuen Sie, dass Sie an der Demonstration teilgenommen haben?
Wenn ich wüsste, dass ich dort verhaftet und anderthalb Jahre eingesperrt werde, glaube ich nicht, dass ich erneut den Mut hätte, es zu tun. Den Widerstand, den ich leistete, habe ich jedoch nie bereut.
«Bis zuletzt dachte ich, sie wollen mir einfach nur Angst einjagen»