Bibelkino für die Generation «Netflix»
Schon nach wenigen Sekunden wird das grosse Problem von «The Chosen» sichtbar. Noch vor dem ersten Bild erklärt eine Schrifttafel: «‹The Chosen› basiert auf den wahren Geschichten der Evangelien von Jesus Christus. Einige Schauplätze und Zeitabschnitte wurden kombiniert oder gekürzt. Hintergrundgeschichten und einige Charaktere oder Dialoge wurden hinzugefügt. Der gesamte biblische und historische Kontext und die künstlerische Fantasie sind jedoch so gestaltet, dass sie die Wahrheit und die Absicht der Heiligen Schrift unterstützen. Den Zuschauern wird empfohlen, die Evangelien zu lesen.»
In dieser Erklärung steckt ein gewaltiger Anspruch: Die eigene Fantasie wird dem Wort Gottes gleichgestellt. Zur Kontrolle wird die Lektüre der Evangelien empfohlen. Dass es ganz unterschiedliche Bibelauslegungen gibt und eine historisch-kritische Bibelforschung, davon ist keine Rede. Das überrascht nicht, denn Dallas Jenkins, der Macher von «The Chosen», hat einst eine sogenannte Megachurch geleitet. Seine Serie wurde in den USA von evangelikalen Christen durch Crowdfunding ermöglicht.
Handwerklich ist «The Chosen» solide gemacht. Es werden zahlreiche Figuren mit sich allmählich verschränkenden Erzählsträngen eingeführt. Jede Folge endet mit einem Cliffhanger. Die Sprache sucht Anschluss an heutige Alltagsrede. Offensichtlich zielt Jenkins auf seriengewohntes Publikum. Die Kulissen hingegen sind bemüht historisierend und die Kostüme kommen etwas zu offensichtlich aus der Schneiderei. Am Ende läuft es doch auf Bibelkino hinaus. Immerhin mit einem Jesus, der auch mal witzig sein darf.
Hintergrundgeschichte bedeutet für Jenkins: Simon, der spätere Petrus, wird als Grossmaul gezeigt, das sich mit seinem Schwager prügelt und Eheproblemen ausweicht. Und Maria Magdalena wird als Lilith eingeführt. Genau hier zeigt sich aber exemplarisch der problematische Ansatz dieser Bibelinterpretation. Lilith ist ein Verweis auf eine mesopotamische Göttin, die im christlichen Kontext oft als dämonisches Urweib gelesen wird. Der erste Auftritt von Jesus dient deshalb natürlich gleich der Austreibung dieses Dämons, damit aus der ungezügelten Lilith die fromme Maria wird.
Im Kern bleibt «The Chosen» allen erzählerischen Eskapaden zum Trotz stramm fundamentalistisch. Wunder werden materialistisch als Fakten «abgefilmt». Und bei der Bergpredigt lauschen Tausende, auch wenn das rein akustisch gar nicht möglich war. Es passt gut in dieses Bild, dass Johannes und Matthäus immer wieder fleissig ihre Notizen machen, auf dass die Evangelien später als Tatsachenberichte verkauft werden können.
Trotz all diesen Vorbehalten kann «The Chosen» für anregende Diskussionen sorgen. Allerdings nur dann, wenn man diese Serie nicht als Verfilmung der Wahrheit sieht, sondern als ziemlich eigenwillige Interpretation der Evangelien. Und gegen die Anmassung, Gott das Wort zu nehmen, hilft historisch-kritische Bibelwissenschaft.
Der Artikel von Thomas Binotto erschien in der Ausgabe 17/2024 des Forum – Pfarrblatt der katholischen Kirche im Kanton Zürich.
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