«Bevor ich sterbe …»
«Etwas Sinnvolles tun», «Lamas und Schafe züchten», «wild sein», «erwachsen werden», «reich sein», «mit P. zusammenkommen», «die Angst vor dem Tod überwinden», «die Welt bereisen».
Der schwarze Kubus steht mitten auf dem Schaffhauser Fronwagplatz und trägt die Aufschrift «Bevor ich sterbe …». Er ist in vielen Farben eng beschrieben. Jede Zeile ist ein handschriftliches Unikat und drückt aus, was Menschen tun möchten, bevor sie sterben. Kinder, Jugendliche und Erwachsene drängen sich um das Kunstwerk, das sich laufend verändert. Manche nehmen Kreide in die Hand und halten inne, bevor sie ihre Gedanken auf die schwarze Fläche schreiben. «Das ist gar nicht so einfach, ich habe mir das noch nie überlegt», murmelt eine Passantin.
Palliatives Netzwerk
Andere gehen zügig auf den Kubus zu, formulieren, ohne zu zögern. Eine Gruppe von Teenagern kichert, während ein Mädchen aufmalt, mit welchem Schwarm es vor dem Sterben zusammenkommen möchte. Eine junge Frau schreibt «wild sein» auf eine leere Zeile. Sie errötet, als sie bemerkt, dass sie beobachtet wird, und bricht in ein verlegenes Lachen aus.
Verantwortlich für die Aktion zeichnete der Verein palliative-schaffhausen.ch, eine Regionalgruppe der Sektion palliative zh+sh innerhalb der Schweizerischen Gesellschaft palliative.ch. «Wir wollen damit auf das Thema ‹Palliative Care› aufmerksam machen und über das Angebot im Kanton Schaffhausen informieren», erläuterte Giskard Wagner, Präsident des Vereins palliative-schaffhausen.ch und Facharzt für Anästhesiologie, Schwerpunkt Schmerztherapie und Palliativmedizin.
«Unser Verein hat seine Arbeit im Jahr 2019 mit einer Handvoll Leute mitten in der Coronapandemie aufgenommen.» Trotz schwierigem Start habe sich ein breites Netzwerk von Fachpersonen und Organisationen etablieren können. Rund 300 Pflegende, Ärzte und weitere Fachpersonen seien jährlich in Palliative Care geschult worden. «Es geht darum, für jeden Menschen am Lebensende die beste Betreuung zu finden. Neben dem Hospiz spielt auch die häusliche Versorgung eine wichtige Rolle.»
Von Oktober 2019 bis September 2022 wurden im Kanton Schaffhausen im Rahmen einer Pilotphase verschiedene palliative Dienste aufgebaut: drei Hospizbetten, ein mobiler palliativer Dienst sowie eine Koordinationsstelle, die Fachpersonen und Institutionen vernetzt. Die Politphase wurde bis Dezember 2023 verlängert. Der Regierungsrat beantragt, die palliative Spezialversorgung ab Januar 2024 fortzuführen und die Übernahme der jährlich wiederkehrenden Kosten von rund 960'000 Franken gesetzlich zu verankern. Darüber stimmt das Volk am 18. Juni ab.
Kirchen tragen mit
Der Kern von Palliative Care besteht in der multiprofessionellen Zusammenarbeit von verschiedenen Fachkräften, die Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, eine bestmögliche Lebensqualität ermöglichen. Dies wurde auf dem Fronwagplatz sichtbar. Neben den Mitgliedern des Vereins Palliative Schaffhausen waren Mitarbeitende der Spitäler Schaffhausen, Haus- und Fachärzte, Therapeutinnen und Therapeuten, Kirchenleute, Politikerinnen und Politiker, Mitglieder des mobilen Palliative-Care-Dienstes, des Vereins Dasein und der Kebsliga vor Ort, um mit Passantinnen und Passanten ins Gespräch zu kommen.
Wagner betonte, wie wichtig auch die Seelsorge sei, um Patientinnen und Patienten zu begleiten. «Die Kirchen tragen die Palliative Care durch den Einsatz sowie die Aus- und Weiterbildung von Seelsorgenden mit. Sie sind ein wichtiger Teil der multiprofessionellen Teams.»
«Letzte Hilfe»-Kurse
Ein anderes Angebot der reformierten Kirche sind die «Letzte Hilfe»-Kurse. Sie vermitteln Interessierten das Einmaleins der Sterbebegleitung. Barbara Piccolin ist Kursleiterin und war auf dem Fronwagplatz vor Ort. In den Kursen lernen Laien, einen sterbenden Menschen in verschiedenen Phasen zu unterstützen. Doch dabei bleibt es nicht. «Es geht genauso um die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, darum, dass man sich fragt, was für einen wichtig ist am Ende des Lebens. Von wem möchte ich betreut, berührt werden, welche Musik möchte ich hören? Das sind Fragen, die man sich vielleicht noch nie gestellt hat.»
Darum geht es auch beim schwarzen Kubus. Die Idee dafür stammt von der amerikanischen Künstlerin Candy Chang. Nach dem Verlust eines lieben Menschen hatte sie an einem verlassenen Haus in New Orleans eine grosse Wand mit der Aufschrift «Before I die, I want to …» installiert. Innerhalb kürzester Zeit beschrieben viele Menschen die Tafel mit ihren Gedanken und Träumen. Die Antworten auf die Frage «Bevor ich sterbe…» sind grundverschieden und spiegeln Persönlichkeiten, Lebensabschnitte, Weltsichten. «Bevor ich sterbe ..., möchte ich leben», steht in blauer Schrift auf dem schwarzen Würfel in Schaffhausen. Der Satz ist dick unterstrichen.
«Bevor ich sterbe …»