News von der Glarner reformierten Landeskirche
Interview mit Fulbert Steffensky, Theologe

Auch mit 90 Jahren in grimmiger Heiterkeit

von Vera Rüttimann
min
31.08.2023
Der Theologe und Publizist Fulbert Steffensky wurde unlängst 90 Jahre alt. Der frühere Benediktinermönch gehört zu den profiliertesten Autoren im kirchlichen Raum. Ein Gespräch über die Schönheit der Kirche, das Alter und die Orte, an denen Gott fehlt.

Fulbert Steffensky, Sie wurden am 7. Juli 90 Jahre alt. Was hat Sie rund um Ihren runden Geburtstag besonders berührt?

Was mich besonders berührt hat, ist, dass meine Tochter aus La Paz hier plötzlich erschien. Unvorhergesehen, das war sehr schön. Zudem war ich mit meinen sieben Enkelkindern zusammen. Wir besuchten mein altes Kloster Maria Laach, in dem ich 13 Jahre als Benediktinermönch lebte.

Sie können auf ein reiches kirchliches und theologisches Wirken zurückblicken. Wie haben sich Theologie und Glaubensleben in diesen Jahrzehnten verändert?

Zunächst einmal haben wir viel verloren: Verloren hat man eine gewisse Selbstverständlichkeit einer religiösen Welt, die ich als Kind und als junger Mann erlebt habe: die Sicherheit, die Selbstverständlichkeit und die Gemeinsamkeit des Glaubens. Früher hat man Religion geteilt. Und immer, wenn man etwas teilt, wird es stark. Es war eine Welt, in der man nicht dauernd Autor seiner selbst und seines eigenen Glaubens sein muss. Der Glaube ist immer zu schwer für einen Einzelnen.

Verloren gegangen sind auch viele Bräuche. Ich glaube, dass man Religion nicht nur gedanklich einüben kann, sondern auch über Formen, Gesten und Bräuche. Man sieht an vielen Stellen allerdings auch, wie Leute sich andere religiöse Gesten und Formen auch wieder bauen.

Was ist weggefallen und wird von Ihnen nicht vermisst?

Selbstverständlichkeiten, die keine guten waren. Wenn ich beispielsweise daran denke, wie man in meiner katholischen Jugend über Protestanten gedacht hat. Oder auch, wie die Protestanten über Katholiken gedacht haben.

Wir haben früher nicht gesucht, weil alles schon gefunden war und weil alles vorgegeben und vorgedacht war.

Was hat sich für Sie in der Kirche zum Positiven gewandelt?

Meine Generation ist einen langen Gang gegangen. Wir haben auf diesem Gang viel verloren, wir haben viel gewonnen. Dass wir die Sprache gewonnen haben und überhaupt über Themen wie unseren Glauben reden können, das ist ein grosser Vorteil. Wir sind, das kann man nicht nur für die Theologie und die Kirche sagen, zudem in allem tastender, vorsichtiger und fragender geworden. Wir haben früher nicht gesucht, weil alles schon gefunden war und weil alles vorgegeben und vorgedacht war.

Wie haben Sie als junger Mann das Zweite Vatikanische Konzil erlebt?

Das war ein ungeheurer Aufbruch. Auch eine ungeheure Leistung, aus einem so festen Gehäuse auszusteigen oder dieses zu verändern. Es ist ja auch weithin nicht gelungen. Das Konzil hat nicht nur einen sehr schönen Fortschritt gebracht, es hat auch viele Konservative konservativer gemacht.

Man kann heute nicht mehr von der einen Theologie sprechen. Es gibt so viele Theologien, wie es Theologen gibt. Gehen Sie doch mal hier in Luzern in den Gottesdienst. Ob bei den Katholiken oder bei den Reformierten: Da ist so viel an unterschiedlicher Theologie und an Formen und Gesten.

Ich finde es geradezu lächerlich, dass man Menschen zwingt, in Konfessionen zu denken!

Wo gehen Sie denn gerne zur Kirche in Luzern?

Ich gehe sehr gerne in die evangelisch-reformierte Matthäuskirche. Ich betrachte sie als meine «Mutterkirche». Ich gehe aber auch gerne zu den Kapuzinern. Konfessionen spielen für mich absolut keine Rolle. Ich finde es geradezu lächerlich, dass man Menschen zwingt, in Konfessionen zu denken! Die Gemeinden sollen nicht warten, bis die kirchlichen Behörden die Einheit ausrufen. Die Einheit muss von unten gedacht und durchgesetzt werden. Ich bin frei und ungebunden in diesem Alter. So könnte allerdings nicht jeder katholische Theologe sprechen. Er bekäme gleich ein Verfahren.

Missbrauchskandale und Austrittswellen: Wie gehen Sie um mit der Krise in der Kirche?

Ich finde die Kirche interessanter, als sie je war. Wenn ich daran denke, welche Kirche ich früher erlebt habe. Es ist heute so viel an Freiheit, politischer Offenheit und Wachheit da. Ich glaube, ich war nie so gerne in der Kirche wie heute.

Man muss auch lernen, die Kirche schön zu finden. Man muss die Schönheit suchen, sie liegt nicht einfach auf der Hand.

Das sind bemerkenswerte Aussagen. Wie ist Ihre Haltung zu verstehen?

Ich betone immer wieder gern den Schatz dieser Kirche. Wo gibt es noch Gebilde, in denen das Recht der Armen eine vorrangige Überlegung ist? Wo man von Gnade statt von Rache spricht? Ich bin gerne in dieser Kirche, in der man Formen für das Leben und das Sterben findet. Das sage ich und verschweige nicht den Missbrauch von Macht und Sexualität. Wer mit der Kirche zu tun hat, hat es mit ihrer Schönheit und ihrem Verrat zu tun.

Man muss auch lernen, die Kirche schön zu finden. Man muss die Schönheit suchen, sie liegt nicht einfach auf der Hand. Das ist übrigens bei allen Schönheiten: Man findet sie, wenn man sie sucht.

Und dennoch sind viele Menschen unzufrieden mit der Kirche. Wie muss sie sich verändern, um für viele wieder attraktiver zu werden?

Es liegt ja auch an den Leuten. Nochmal: Mein sehr grosses Anliegen ist, dass das, was wir haben, als einen Schatz und als eine Schönheit darstellen. Nehmen wir mal das Beispiel der Beichte. Keine Frage, ein merkwürdig missbrauchtes Instrument. Es bedeutet, dass es einen Ort gibt, wo Menschen mit einer Schuld hingehen können und wo sie Trost und Ermunterung bekommen können. Wo gibt es das sonst? Bekehrung, ein vielleicht anstössiges Wort, aber: Was ist das für eine Schönheit, dass gedacht werden kann, dass Menschen sich verändern? Dass man das Menschentum eines Menschen daran erkennt, dass sie veränderungsfähig sind. Oder, wie meine verstorbene Frau Dorothee Sölle immer gesagt hat, dass sie das Recht haben, ein anderer zu werden.

Ich denke, dass man Menschen daran erkennt, wie viele Zwiespälte oder Ambivalenzen sie in sich dulden.

Apropos Identität: Ihre Biografie ist eine spannende «Mixtur». Wie würden Sie sich beschreiben?

Ich habe nie meinen Katholizismus verloren. Die Kultur des Katholizismus liebe ich sehr. Den Protestantismus habe ich vor allem über Lieder gefunden. Über den bedeutenden deutschsprachigen Kirchenlieddichter Paul Gerhardt beispielsweise. Ich bin inzwischen Protestant und liebe Calvin und Luther ebenso.

Ich denke, dass man Menschen daran erkennt, wie viele Zwiespälte oder Ambivalenzen sie in sich dulden. Dass sie nicht gezwungen sind, nur der eine zu sein. Einer zu sein, heisst immer eine Form von Verdummung. Wer bin ich? Ich bin «einer-der-Dazwischen». Der Platz zwischen zwei Stühlen ist ein sehr guter Platz, aber man ist auch nie ganz zu Hause. Es kostet alles etwas. Ich habe mich gesucht und gefunden.

Welcher Bibelvers hat Sie in Ihrem Leben besonders geprägt?

Was mir in den letzten Jahren am allerwichtigsten geworden ist, ist der Begriff der Gnade. Auch als politischer Begriff gegen die Gnadenlosigkeit einer Gesellschaft. Gnade: Was das bedeutet, versuche ich am 8. Kapitel des Römerbriefes zu zeigen. Ich zitiere daraus den Satz: «Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.» Das heisst: Wir müssen nicht Zeugen unserer selbst sein. Wir sind bezeugt. Ich bin nicht gezwungen, völliger Meister meiner selbst zu sein. Ich bin nicht gezwungen, in der eigenen Ichheit zu ersticken. Ich sage es besser mit einem Gedicht der chilenischen Dichterin Gabriela Mistral. Es beginnt so: «Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau.» Das heisst: Ich bin nicht gezwungen, mein eigener Schönfinder zu sein. Ich bin schön, ehe ich mich selbst schön finden kann. Ich bin gefunden, ehe ich mich selbst suchen kann. Das nennt man Gnade.

Am wenigsten erlebe ich Gott, wenn Leute verhungern oder im Mittelmeer ersaufen.

Gab es in Ihrem Leben Momente, in denen Sie Gott erlebt haben?

Ich habe Gott noch nie erlebt! Ich glaube an ihn, aber erlebt habe ich ihn noch nie. Ich kann natürlich metaphorisch sagen: Ich erlebe Gott in jeder Umarmung oder wenn ich die Natur sehe. Das sind schon Spielarten Gottes. Am wenigsten erlebe ich Gott, wenn Leute verhungern oder im Mittelmeer ersaufen.

Hoffnung lernen, haben Sie gesagt, heisst auch, Illusionen zu verlernen. Auch die über Gott. Wann hat sich Ihr Gottesbild verändert?

Mit Auschwitz. Dieses Ereignis hat Glaube und Kirche in meiner Kindheit grundlegend verändert. Ab diesem Zeitpunkt war es nicht mehr derselbe Gott, zu dem wir nach der Erfahrung der grossen Zerstörungen beten konnten. Wir haben die Illusionen über den Menschen verloren, auch über Gott. Mit welcher Selbstverständlichkeit wir immer gesagt haben: Gott hilft, er ist in allem bei uns. Das ist auch richtig, aber ich muss auch sagen: Er fehlt. Und er versteckt sich. Mein Leben hat mich gelehrt: nie zu eindeutig sein in dem, was man über Gott sagt.

Was kommt für Sie nach dem Tod?

Das ist doch nicht meine Sache, das ist Gottes Sache! Was nach dem Tod kommt, das weiss ich nicht. Das überlassen wir dem lieben Gott.

Sie sind 90 Jahre alt. Was ist für Sie noch wichtig in Ihrem Leben?

Mir wäre lieb, dass meine Enkelkinder ein Stück dieser christlichen Tradition kennen lernen. Ich will gar nicht sagen, dass sie sie unter allen Umständen lieben müssen, aber sie sollen sie zumindest kennen lernen.

Sie leben in Luzern, der Leuchtenstadt. Wie ist Ihr Verhältnis zu dieser Stadt?

Luzern habe ich immer geliebt: die Wanderungen, die man von hier aus machen man, den See, in dem man schwimmen kann, und nicht zuletzt die Freundlichkeit der Leute.

Alt werden heisst, Stück für Stück abzugeben von den alten «Künsten»: vom Wandern, vom Radfahren und vom Schwimmen. Mein Wunsch wäre, dass ich das in Heiterkeit tun kann. Wenn es sein muss, in grimmiger Heiterkeit.

 

Fulbert Steffensky

Portrait von Fulbert Steffensky. Weisse, kurze Haare, blaue Augen, Brille. Seine sehr helle Haut ist gerötet, er trägt ein dunkelblaues Poloshirt und lächelt verhalten verschmitzt in die Kamera

Von 1969 bis zu ihrem Tod 2003 war der zum Protestantismus konvertierte Ökumene-Experte Fulbert Steffensky mit Dorothee Sölle, einer der einflussreichsten evangelischen Theologinnen ihrer Zeit, verheiratet. Zuvor war er Bruder in einem Kloster.

Gemeinsam waren sie Mitbegründer des Politischen Nachtgebets. Von 1975 bis zu seinem Ruhestand 1998 wirkte Fulbert Steffensky als Professor für Religionspädagogik an der Universität Hamburg.

Fulbert Steffensky geniesst sowohl in katholischen als auch in evangelischen Kreisen hohes Ansehen.

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