News von der Glarner reformierten Landeskirche

«Antisemitismus schafft sich seine eigene Wirklichkeit»

min
27.06.2017
Ein Dokumentarfilm über den neuen Antisemitismus in Europa sorgt für heisse Köpfe. Zuerst strahlten ihn Arte und WDR nicht aus. Er sei nicht ausgewogen genug, so die Erklärung. Andere vermuteten Zensur. Für den Theologen Ekkehard W. Stegemann versteckt sich der Antisemitismus oft hinter der Israelkritik.

Herr Stegemann, Arte und der WDR weigerten sich, einen Dokumentarfilm über den Antisemitismus auszustrahlen, aus formalen Gründen. Ist Antisemitismus heute noch ein Tabu?
Die lange Geschichte der Judenfeindschaft zeigt, dass Antisemitismus nie ein Tabu war. Im Gegenteil. Judenfeindschaft galt gesellschaftlich und moralisch als nicht hinterfragbare Norm. Nach dem Holocaust ist Antisemitismus in vielen Staaten, auch in der Schweiz, gesellschaftlich geächtet worden, auch mit der Hilfe des Strafgesetzes. Das war ein Paradigmenwechsel. Insbesondere auch für viele Kirchen, die ihre elende Geschichte der Judenfeindschaft mit Scham öffentlich als Schuld anerkannt haben. Doch es hat sich gezeigt, dass der Antisemitismus eine höchst flexible Kraft ist. Er lebt sein Ressentiment, nicht zuletzt posierend als moralisch überlegene Haltung, auf Umwegen aus. Neuerdings vor allem in Bezug auf den jüdischen Nationalstaat. Ein Trick dabei ist, diesen auf Israel bezogenen Antisemitismus als «Israel-Kritik» zu bezeichnen. Doch wenn das durchschaut wird, phantasiert man, dass Israel-Kritik ein Tabu sei. Aber ein Sprechverbot für Kritik an Israel gibt es nicht. Wer könnte es auch verhängen?

Sie warnen seit Jahren vor dem zunehmenden Antisemitismus.
Antisemitismus war in den westlichen Staaten latent auch seit 1945 vorhanden, aber – anders als in muslimischen Mehrheitsgesellschaften – öffentlich geächtet. Doch kann man heute hemmungslos Israel dämonisieren. Wenn Mahmud Abbas im Europäischen Parlament das alte Schauermärchen bedient, israelische Rabbiner hätten von ihrer Regierung verlangt, das Wasser zu vergiften, um Palästinenser zu töten, erhält er gleichwohl «standing ovations».

Das alte Motiv des Juden, der Brunnen vergiftet. Warum sind Juden die Sündenböcke?
Eine grosse Rolle dabei spielt, dass Antisemitismus eine Krankheit ist, die an der wirklichen Realität mit ihren vertrackten Aspekten leidet und einen Schuldigen braucht dafür. Das sind dann immer die Juden. In der christlichen Tradition galten beispielsweise die Juden, die nicht Christen werden wollten, als Spielverderber der Realisierung ihrer heilsgeschichtlichen Hoffnung auf das Gottesreich. Heute ist es angeblich Israel, das den Frieden in Nahost verhindert, gar zum Feind des Friedens in der Welt erklärt wird. Das ist eine krasse Lüge.

Der Dokumentarfilm wirft kirchlichen Kreisen vor, dass sich hinter ihrer Kritik an Israel Antisemitismus versteckt. Sehen Sie das auch so?
Ja. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass der Weltkirchenrat (ÖRK) geradezu besessen zu sein scheint von der Idee, er müsse die Kirchen und ihre Mitglieder dazu animieren, auf den jüdischen Staat und seine sicherheitspolitischen Massnahmen aufzupassen. Auf palästinensischen Terrorismus muss man dagegen offenbar nicht achten. Das ist verbunden mit einer Erzählung über die Geschichte des Konflikts ausschliesslich aus der palästinensischen Sicht und mit der Propagierung von Boykott gegen Israel. Antisemitisch orientierte Feinde Israels werden hofiert.

Mit Verlaub, es gibt Menschenrechtsverletzungen von Israel gegenüber den Palästinensern.
Menschenrechtsverletzungen gibt es, jedoch hauptsächlich durch palästinensische Machthaber an der eigenen Bevölkerung. Das werfen sich die Hamas in Gaza und die Autonomiebehörde in Ramallah übrigens gegenseitig vor. Die Liste dieser Verbrechen ist lang. Die Menschenrechtsdebatte muss man auch im Blick auf Israel immer ernst nehmen. Aber, sehen Sie, im ganzen arabischen Raum, aber auch andernorts, etwa im Iran oder in China werden die Menschenrechte täglich verletzt, Regimekritiker inhaftiert und Menschen hingerichtet, «Ehrenmorde» begangen und toleriert. Warum aber singuliert man etwa im Menschenrechtsrat der UNO in Genf immer Israel? Ich denke, da misst man im Bezug auf Israel mit verschiedenen Massstäben. Die Frage ist doch warum?

Zurück zum Antisemitismus. Wie kann man die israelische Politik gegenüber den Palästinensern kritisieren, ohne sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen zu lassen?
Die Antwort ist eigentlich simpel. Kritiker an israelischer Politik werden in der Regel nicht als antisemitisch eingeschätzt. Man muss keine Leitlinien dafür suchen, was eigentlich normale «Israel-Kritik» von Antisemitismus unterscheidet. Denn wer sich kritisch mit israelischer Politik auseinandersetzt, ist in der Regel für Gegenkritik, also auch für Selbstkritik offen. Leute, die sich jedoch antisemitisch positionieren gegen Israel unter dem Mäntelchen der «Israel-Kritik», schotten sich auch gegen Gegenkritik ab. Sie tun das meistens so, dass sie über die angebliche «Antisemitismuskeule» klagen. Vor allem wehren sie sich, eine andere historische oder rechtliche Deutung des Handelns Israels im Nahostkonflikt als die ihre für diskutabel zu halten. Antisemitismus schafft sich seine eigene Wirklichkeit.

Zu einem anderen Thema: Was kann die Kirche für den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern tun?
Ich empfehle, der moralischen und politischen Allmachtsphantasie und Besserwisserei in unseren Reihen zu entsagen. Funktionäre in Kirchenleitungen und selbst im Ökumenischen Rat der Kirchen wissen es nicht besser. Sie haben kein Mandat zum Anti-Israelismus, weder von Gott oder Christus, aber auch nicht vom Kirchenvolk. Mit der Propagierung antiisraelischer Pamphlete wie «Kairos Palästina» und der Finanzierung antiisraelischer NGOs oder etwa der EAPPI (in der Schweiz durch HEKS) wird der Friedensprozess behindert und auch dem palästinensischen Volk ein Bärendienst erwiesen. Zugleich verketzert der ÖRK aber auch die, die seine grosse anti-israelische Erzählung über den Konflikt nicht teilen, als «christliche Zionisten». So viel zum Rückfall in Luthers Erbe! Die beiden Kammern, National- und Ständerat, der Schweiz haben kürzlich gezeigt, dass beispielsweise die selbstherrliche Politik der Finanzierung antiisraelischer Nichtregierungsorganisationen durch das EDA nicht mehr in Stein gemeisselt ist. Der SEK sollte dem folgen. Der ÖRK ist von Mitgliedskirchen auch kritisierbar. Und vor allem: der üppige Geldfluss von Kirchensteuern an anti-israelische Organisationen sollte überprüfbar sein.

Zu diesen NGOs gehören auch Organisationen der israelischen Friedensbewegung.
Es muss klar gesagt werden, dass es respektable zivilgesellschaftliche Ansätze gibt, die friedensbereite Israelis und Palästinenser zusammen führt. In der Schweiz ist die sogenannte «Genfer Initiative»* zu erwähnen. Viele NGOs jedoch, die leider im Vordergrund stehen und üppig finanziert werden, sind hoch politisierte und fragwürdige anti-israelische Projekte, die nicht zufällig medial Erfolg haben. Die, die friedliches Miteinander ohne anti-israelische Agenda verfolgen, leiden an mangelnder Unterstützung. Grosse Unterstützung geniesst hingegen etwa «Breaking the Silence» (BtS), auch in kirchlichen Kreisen der Schweiz. Das ist eine nicht dem Frieden, sondern der bleibenden Feindschaft gegen Israel zuarbeitende NGO, die auch noch mit (oder gerade wegen) der Verleumdung der israelischen Armee im Ausland gut Kasse macht. Nur ein Beispiel: Der Gründer von BtS, Yehudah Schaul, hat behauptet, die Armee hätte das Wassersystem eines palästinensischen Dorfes vergiftet. Das war nachweislich eine Lüge. Abbas hat übrigens seine Wasservergiftungslüge vor dem Europäischen Parlament zurückgenommen.

Ekkehard W. Stegemann ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.

Tilman Zuber / Kirchenbote / 26. Juni 2017

Dieses Interview stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Unsere Empfehlungen

69-Jährige im neuen Look

69-Jährige im neuen Look

Das «Wort zum Sonntag» gehört zu den ältesten Sendungen von SRF. Jetzt wurde ihr Auftritt optisch überarbeitet. Über die alte Sendung in neuem Glanz.
Kunstwerke als Botschafter eines bedrängten Landes

Kunstwerke als Botschafter eines bedrängten Landes

Die Ukraine kämpft um ihr Überleben. Auch die Kunst des Landes leistet ihren Beitrag dazu. Das Kunstmuseum Basel präsentiert derzeit in der Ausstellung «Born in Ukraine» eine Auswahl bedeutender Werke aus der Kyjiwer Gemäldegalerie, dem nationalen ukrainischen Kunstmuseum.
Frauen mit einem abenteuerlichen Herzen

Frauen mit einem abenteuerlichen Herzen

170 Jahre nach der Gründung des Diakonissenhauses Riehen beleuchtet eine Ausstellung mit Fotos und Texten die Geschichte der Kommunität. Sr. Delia Klingler lebt seit 2017 als Schwester hier. Der Kirchenbote hat mit ihr die Ausstellung besucht.