«Als Nachgeborener sollte man auch etwas gnädig sein»
Georg Kreis, in den nächsten Jahren sterben die Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Wird sich dadurch die Gesellschaft verändern?
Die Gesellschaft wird ärmer.
Warum sind die Zeitzeugen für eine Gesellschaft so wichtig?
Aufgrund ihrer Authentizität, sie verkörpern eine reale, menschliche Präsenz von Vergangenheit.
Können diese Aufgabe nicht Bücher und Filme übernehmen?
Doch, das müssen die Medien nach dem Ableben von Zeitzeugen zwangsläufig tun, auch wenn dies nicht das Gleiche ist.
Sind nicht die Historiker der «Ersatz» für die aussterbenden Zeitzeugen?
Auch wenn Historiker und Zeitzeugen Vergangenheit vermitteln, besteht ein grundlegender Unterschied zwischen beiden. Beim Zeitzeugen ist die persönliche, subjektive Erfahrung, die er in sich trägt, wichtig. Der Historiker muss ein objektivierendes Verständnis entwickeln. Die Botschaft des Zeitzeugen kann man einzig zur Kenntnis nehmen, die Arbeit der Historiker hingegen, die oftmals auf den Aussagen der Zeitzeugen beruht, kann man diskutieren.
Kann eine Gesellschaft aus der Geschichte lernen? Oder machen spätere Generationen die gleichen Fehler? Etwa den Rückfall der Demokratie in die Diktatur wie zur Zeit der Weimarer Republik?
Diese Frage berührt die Vorstellung, dass sich Geschichte wiederholen könnte. Doch es ist komplizierter. Zum einen gibt es kaum eindeutige Übereinstimmungen zwischen alten Vergangenheiten und neuen Gegenwarten. Zum anderen gibt es ja auch Kräfte, die sich geradezu danach sehnen, dass eine anrüchige Vergangenheit neu ersteht. Einsichten in vergangene Vorgänge können Haltungen in der Gegenwart stärken, das aber hängt stark von der Gegenwart ab. Ist der Erinnerungswille nicht da, ist die Vergangenheit tot.
Der Holocaust und die Verfolgung der Juden ist ein wichtiger Teil unserer heutigen Erinnerungskultur. Warum?
Jetzt berühren wir den Punkt, warum wir offenbar dieses Gespräch führen. Zeitzeugenschaft erscheint gerade diesbezüglich wichtig. Es gibt Zeugen zu den verschiedensten historischen Ereignissen. Als wir beispielsweise 2014 den vor hundert Jahren ausgebrochenen Ersten Weltkrieg rekapitulierten, wurde uns in Erinnerung gerufen, dass nur noch wenige Veteranen am Leben waren. Der Holocaust hingegen erlangt seine besondere Bedeutung, weil er der Kulminationspunkt einer in Europa seit Jahrhunderten betriebenen Ausgrenzung ist, die immer wieder in der Vernichtung endete. Besonders bedenklich ist, dass die systematische Vernichtung der Juden von einer modernen, angeblich zivilisierten Gesellschaft mitgetragen wurde.
Die Erinnerungskultur erinnert daran, wie die Nazis die Juden verfolgten und ermordeten. Das ist gut so. Aber reduziert sie das Judentum nicht zu sehr auf den Holocaust?
Holocausterinnerung ist ein wichtiges Element jüdischer Identität. Das andere analoge Parallelthema ist der Antisemitismus, den man immer wieder mit der jüdischen Welt verbindet. Welche Bedeutung die Holocausterinnerung für die Nachkommen der Opfer hat, soll diesen überlassen bleiben. Ich halte es für wünschbar, dass mit dem Ernstnehmen der Vernichtungsgeschichte nicht die Wahrnehmung der reichhaltigen Kultur des Judentums verloren geht.
Beim Zweiten Weltkrieg verweist die Schweiz gerne nach Deutschland. Gibt es in der Schweiz nicht auch wichtige Themen, bei denen die Zeitzeugen langsam aussterben?
Es gibt Erinnerungen, die bezüglich der erfahrenen Entbehrung in dieser Zeit einen Kontrast zur Gegenwart bilden. Für uns sollte die damalige Flüchtlingspolitik der Schweiz in Erinnerung bleiben. Mir ist die Feststellung wichtig, dass Schweizerinnen und Schweizer trotz gleicher Lebensbedingungen, aufgrund ihrer Einstellung unterschiedlich auf die Herausforderungen reagiert haben.
Kann man Vergleiche zur heutigen Flüchtlingspolitik ziehen?
Kaum. Früher war vieles anders. Ich finde eine gleichsetzende Argumentation daher schwierig. Heute ist das staatliche Engagement für Flüchtlinge ungleich besser als früher. Früher sah man die Flüchtlingshilfe weitgehend als Privatsache der einzelnen Religionsgemeinschaften oder politischen Parteien an. Für katholische Immigranten war die katholische Kirche zuständig, für jüdische die jüdischen Gemeinden. Gleich bzw. gleichgeblieben ist jedoch die ethische Herausforderung der Gesellschaft und des Einzelnen.
Da fragt man sich, was hätte man selbst in der Situation des Zweiten Weltkrieges gemacht. Hätte man Widerstand geleistet? Sich angepasst?
Das ist sicher eine Frage, der man sich stellen sollte. Doch die Antwort kennen wir nicht. Manche erklären, sie hätten so wenig gemacht, weil es unsichere Zeiten waren, weil man an Lebensmittelknappheit litt und Angst hatte. Andere hingegen halfen den Flüchtlingen genau unter solchen Lebensumständen.
Sprechen wir von der Aktivgeneration. Ist es für den Historiker problematisch, wenn diese Generation daran festhält, sie habe Hitler gestoppt?
Insbesondere die Soldaten der Aktivgeneration wollen eine sinnvolle Zeit an der Grenze verbracht haben und sich nicht von späteren Wohlstandskindern erklären lassen, dass dies nicht zentral für die Schweiz war. Dafür kann man Verständnis haben, man sollte sich aber nicht davon abhalten lassen, die später gefundenen Einsichten daneben oder sogar dagegen zu halten. Es gibt auch da die verschiedensten Erlebnisse. Im Jahr 2000 hat man 500 Leute der Aktivgeneration in Videos zur damaligen Zeit befragt. Das Fazit dieser guten Dokumentation ist, die Aktivgeneration im Sinne eines homogenen Blocks gab es nicht.
Wir alle leben in unserer Zeit. Kann man erkennen, wann eine Gesellschaft in eine Katastrophe läuft? Gibt es Warnsignale?
Ich bin dieser Frage nachgegangen, ab wann man vom Schicksal der Juden, das ihnen die Nazis bescherten, wissen konnte. Der «Kristallnacht» bzw. der Reichspogromnacht, die im November 1938 auch am helllichten Tag stattfand, kommt eine wichtige Bedeutung zu. Aus heutiger Sicht hätte dies genügt, um spätestens zu diesem Zeitpunkt wahrzunehmen, dass hier ein grosser Teil der Bevölkerung einer hohen Gefahr ausgesetzt war. Trotzdem haben es viele nicht erkannt. Dafür muss man jedoch auch ein gewisses Verständnis haben. Wir alle haben unsere Alltagssorgen, unsere Kinder, Eltern und Grosseltern, für die wir sorgen müssen. Und wir erleben, dass wir über Vorgänge erfahren, denen wir selber nicht aktiv Rechnung tragen können. Wir erleben dies heute, wenn wir die Nachrichten aus Syrien oder dem Libanon verfolgen. Oder 1968, als Sowjetpanzer den Prager Frühling niederwalzten, oder 1956, als der Ungarnaufstand niedergeschlagen wurde. Man nimmt etwas wahr, ist erschüttert, spendet vielleicht und geht dann über zur Tagesordnung. Wir sind von solchen Ereignissen auch überfordert. Deshalb sollte man vorsichtig sein, wenn man als Nachgeborener die Haltung früherer Generationen beurteilt und verurteilt.
Ein anderes Schweizer Thema aus dem 20. Jahrhundert ist das Schicksal der Verdingkinder. Auch da melden sich jetzt Zeitzeugen.
Es ist wichtig, dass man dieses Thema aufarbeitet und die unterschiedlichen Erlebnisse der ehemaligen Verdingkinder anspricht. Denn nicht alle Kinder, die versorgt wurden, hatten es schlecht. Aber man darf die Zeitzeugen nicht gegeneinander ausspielen.
Georg Kreis, Sie wurden 1943 geboren und sind Zeitzeuge einer Epoche. Welches Ereignis wollen Sie der jungen Generation weitergeben?
Schwierige Frage. Ich habe Mühe, aus der Vielzahl des Erlebten ein bestimmtes Ereignis herauszupicken. Ich ertappe mich dabei, dass sich beim inneren Abrufen von Erfahrungen die schwierigen und nicht die erfreulichen Momente melden. Ein in diesem Sinn herausragendes, vergleichsweise aber doch harmloses Ereignis war der Ölschock, der nach den boomenden und als golden bezeichneten 1960er Jahren im Spätherbst 1973 eine Endzeitstimmung aufkommen liess. Ich lebte mit meiner Kleinfamilie in Paris und habe auf dem Markt im Hamstermodus irrational Gemüse eingekauft, damit wir in den nächsten Tagen noch etwas zu essen hatten.
Welche Zeit hat Sie am stärksten geprägt?
Zweifellos der mit der Ziffer «1968» verbundene Durchbruch der fundamentalen Liberalisierung und Pluralisierung der vormals traditionell und autoritär eingestellten Gesellschaft.
Sind Sie ein 68er?
Ja, und ich war in der Studentenschaft aktiv. 1968 ist aber ein Mythos, der sich an den extremen Erscheinungen wie dem Mai in Paris, den Pflastersteinen oder den Kommunen in Berlin orientiert. In der Schweiz war alles gemässigter. 1968 bedeutete für die Jugend eine Aufwertung. Plötzlich interessierte man sich für ihre Meinung und sie durfte im Radio und im Fernsehen mitdiskutieren.
Und was haben Sie die 1968er Jahre gelehrt?
Dass es in kollektiven Grundeinstellungen kaum gesicherte Bestände und Errungenschaften gibt und sich die Welt – ob zum Besseren oder Schlechteren – in einem permanenten Wandel befindet.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online
«Als Nachgeborener sollte man auch etwas gnädig sein»