News von der Glarner reformierten Landeskirche

22 Minuten und ein Halleluja

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28.05.2022
Mitte Mai waren die Mitglieder der Regierung und des Parlaments zur Besinnung eingeladen. Der abtretende Kirchenratspräsident Wilfried Bührer motivierte zur Freude und Zuversicht. Was steckt hinter dem Grossratsgottesdienst?

Satter Glockenklang und eine mit vielen Kerzen erhellte evangelische Kirche laden würdig zur Besinnung ein. Erstmals nach der Corona- Pause lassen sich etwa die Hälfte des Grossen Rates und drei Mitglieder der Regierung wieder auf den Kirchenbänken nieder. Ruhe kehrt erst ein, als die Orgel markant den Auftakt macht. Pfarrer Wilfried Bührer, letztmals als Kirchenratspräsident am Mikrofon, liest aus Psalm 73: «Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand … Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.» Kräftig ertönt darauf «Amazing Grace», der bewegende Gospel von Gottes Barmherzigkeit und Gnade. Die vielen Männerstimmen dominieren, angeführt vom stimmgewaltigen Regierungsrat Urs Martin.

Wichtige Basis
Die «politischen» Besinnungen wurden 2010 von Wolfgang Ackerknecht, Kantonsrat der Evangelische Volkspartei (EVP), und einer Impulsgruppe ins Leben gerufen. Sie finden seither zweimal jährlich statt: im Frühjahr vor der Wahlsitzung in Frauenfeld und im Herbst vor der Wega-Sitzung in Weinfelden. Die Leitung teilen sich Vertreter der beiden Landeskirchen. «Die kurzen Andachten sollen sensibilisieren, dass nicht alles in der Macht der Politik liegt», erklärt Ackerknecht. «Sie sollen auch dazu beitragen, sich der christlichen Wurzeln in unserem Land bewusst zu sein.» Seit 2019 liegt die Koordination bei EVP-Kantonsrätin Elisabeth Rickenbacher. Ihre Motivation: «Die gemeinsame Besinnung im Namen Gottes schafft eine wichtige Basis für unsere politische Arbeit.»

«Wenn ich nur dich habe»
Wilfried Bührer wirft die Frage in den Raum, was wir während der Pandemie am meisten vermisst haben: persönliche Nähe, Planungssicherheit, Gesundheit? «Wenn ich nur dich habe…». Das sei die Sprache der Verliebten. Verliebte kennen keine verlorene Zeit. Bührer führt den Gedanken weiter: «Es ist keine verlorene Zeit, wenn wir uns ganz auf Gott ausrichten. » Das Streben nach Effizienz und nach Erfolg sei menschlich und liege in der Natur der Politik. Doch es dürfe nicht in eine endlose, gefährliche Spirale hineinführen. Sich aufs Wesentliche ausrichten: Das nimmt sich Bührer auch selber für die Zeit nach der Pensionierung vor. «Dennoch bleibe ich stets an dir…». Er motiviert seine politische Gemeinde zur Treue, zur Freude und zur Zuversicht – «zur Zuversicht auf Gott, den Herrn». Noch einmal erfüllt ergreifender Gesang den Kirchenraum: «In dir ist Freude in allem Leide, o mein lieber Jesus Christ – Halleluja».

Seltener Genuss
Die Freude ist auch Regierungspräsidentin Monika Knill ins Gesicht geschrieben. Sie meint: «Dieser Anlass mit schöner Orgelmusik, Gesang, inspirierenden Worten und Besinnung gefällt mir. Ich geniesse diesen seltenen Moment und freue mich, dass dies in einer solchen Gemeinschaft mit dem Grossen Rat möglich ist.» Eindrücklich, wenn Politikerinnen und Politiker am Schluss gemeinsam das «Unservater» beten. Mit dem Segen Gottes beschenkt, ziehen sie nach 22 Minuten Besinnung von der Kirche zum Rathaus. Sie gehen stiller, als sie gekommen sind. Stille Freude oder gespannte Erwartung auf die Wahlsitzung? Das «Halleluja» wird im einen oder andern Herzen nachklingen. *Der Autor war Chefredaktor des evangelischen Wochenmagazins Idea und gehörte während 20 Jahren dem Grossen Rat an.

 

(Andrea Vonlanthen)

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